Mittwoch, 1. Juni 2011

12. April, Richtersveld Nationalpark, De Hoop > Potjiespram

Nach einer Nacht wie dieser wissen wir, wie sich ein Schnitzel fühlen muss, bevor es in die Pfanne kommt – nämlich ziemlich paniert. Ja, es war relativ kühl, wir mussten nicht schwitzen, doch bei jeder versehentlichen Berührung der Zeltwand rieselte puderzuckerfeiner Sand auf uns herab und blieb auf unserer seit Tagen ungewaschenen Haut kleben. Irgendwann aber erreicht man einen Zustand, in dem einem solche Kinkerlitzchen relativ egal sind. Und in diese Bewußtseinsstufe sind wir nun definitiv eingetreten… Gut gelaunt, eins mit uns und unserer Panierung und voller Wohlgefühl robben Heinz und ich aus dem Zelt, hinaus in einen neuen Tag, der uns mit ersten Sonnenstrahlen begrüßt. Ich will mir gerade meine Sandalen anziehen, als ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnehme; irgendetwas krabbelt da direkt neben meinem rechten Fuß. Meine noch etwas schlaftrunkenen Augen fokussieren ein paar Mal, stellen schließlich scharf und identifizieren ein urtümliches Krebstierchen von beachtlicher Größe. Es sieht aus wie eine siebengliedrige Assel, deren gepanzerter, ellipsenförmiger Körper sicher acht Zentimeter in der Länge und viereinhalb in der Breite misst. Dank seiner idealen Gewichtsverteilung pflügt das Tier auf unsichtbaren Beinpaaren fast mühelos durch den unebenen Sand und hinterlässt interessante Spuren – bis es mit den Fühlern an meinen Schuh stößt. Irritiert tastet das Insekt jetzt umher, versucht auszuweichen, zieht dann aber die sicherste Lösung vor und rollt sich zu einer bemühten, aber leider nicht ganz perfekten Kugel zusammen. Trotzdem entzückt, klaube ich das graubraune Chitinbällchen auf und trage es aus der Gefahrenzone. Hach, eine Assel am Morgen vertreibt Kummer und Sorgen, so oder so ähnlich sagt ein deutsches Sprichwort. Dabei haben wir weder das eine noch das andere, sondern nur Hunger. Und der lässt sich gar trefflich mit einem üppigen Frühstück eliminieren, zu dem wir uns gleich alle zusammenfinden. Heinz, Annette, Jochen und ich – und die unvermeidlichen Frankoline. Immer noch begeistert von der riesigen Assel, lasse ich mir Marmeladentoast und Tee schmecken – hätte ich zu diesem Zeitpunkt allerdings schon gewusst, was ich Monate später über die vermeintliche Assel herausgefunden habe, so wäre mein Entzücken vielleicht nicht ganz so ausgeprägt gewesen: das als Assel getarnte Insekt nämlich war in Wirklichkeit eine flügellose Angehörige derer Blattodeae – also eine Kakerlake – und die sind mir ja nicht so sympathisch. Doch, wie gesagt, das sollte ich erst Monate später erfahren und so tut die Begegnung mit dem betrügerischen Ungeziefer meinem Appetit in diesem Moment keinen Abbruch.

Kakerlake (Blattodea sp.)
Flüchtiger Skorpion
Leucorchestris sp.












Doch so spannend der frühe Morgen am Ufer des Oranje auch sein mag, so viel Zeit wie gestern lassen wir uns heute nicht nicht, denn wir werden De Hoop verlassen und, innerhalb des Richtersveld Nationalparks, nach Potjiespram wechseln und das heißt natürlich packen. Oder auch Schnitzelphase Zwei, denn die Temperaturen steigen stetig und wir fühlen uns beim Auflösen unseres Camps wie in einer sich aufheizenden Pfanne, so heiß ist es bereits jetzt, zu früher Stunde. Und in dieser Hitze tut jede Pause gut, selbst eine durch einen Skorpion verursachte, der unter der Bodenplane unseres Zelts übernachtet hat und sich, durch unser Geräume hochgeschreckt, zum drohenden Aufrichten seines bestachelten Schwanzes genötigt sieht. Es ist ein blass sandfarbenes Exemplar mit kräftigem Hinterteil und relativ schlanken Scheren, also kein ganz harmloses Bürschchen.

Doch wir müssen uns keine Sorgen machen, denn der kleine Arachnide hat mehr Angst vor uns als wir vor ihm und sucht lieber eilig das Weite. Als er unter einem großen Stein verschwunden ist und wir uns versichert haben, dass er wohl so schnell nicht wieder aufzutauchen gedenkt, räumen wir beruhigt weiter. Nach einer halben Stunde ist alles verstaut, nur Tisch und Stühle sind noch übrig – die müssen jetzt in den schwarzen Packsack. Aber wo ist der schon wieder abgeblieben? Schließlich finde ich ihn, lieblos zusammengeknüllt, hinter einem nahen Gebüsch. Verdammt, der lag, so wie er aussieht, seit vollen zwei Tagen da – dabei hatte ich doch extra gebeten, den Sack immer ins Auto zu räumen, denn er ist das ideale Versteck für allerlei krabbelndes und krauchendes Getier. Und spätestens nach unserem Mambabesuch auf Koiimasis sollten wir daraus gelernt haben… Sollten. Seufzend und mit spitzen Fingern hebe ich das schwarze Stoffding vom Boden auf, um es gleich darauf quiekend wieder fallen zu lassen. Eine einfamilienhausgroße Spinne enthuscht einer der textilen Falten und flitzt hektisch auf der Außenseite des Sacks herum. Naja, ganz so riesig ist sie nun auch nicht, aber auf knapp zehn Zentimeter bringt sie es schon. Irgendwie wirkt sie gespenstisch, ja beinahe ungesund, denn ihr stattlicher Leib und auch die kräftigen Beine sind von schmutzig-weißblonden Haaren bedeckt, die einen extremen Kontrast zum Schwarz des Packsacks bilden. Mhmm, das Tier sieht fast aus wie eine Dancing White Lady, aber eben nur fast – später finde ich heraus, dass es wahrscheinlich eine nahe Verwandte selbiger ist, eine Unterart, die nur im Richtersveld vorkommt. Doch Lady hin oder her, begeistert bin ich von ihrer Präsenz auf unserem Sack nur teilweise und auch Heinz betrachtet den leichenblassen Achtbeiner, dem übrigens zwei seiner borstigen Stelzen fehlen, mit gekräuselter Nase und deutlich zweischneidigen Gefühlen. Zwar lassen wir uns die Gelegenheit nicht entgehen, zücken die Fotoapparate und schießen einige Bilder des fahlfarbenen Gastes, dann aber wird es Zeit, die blonde Dame loszuwerden. Vorsichtig bugsiere ich sie mit einem langen Stock von der textilen Stuhlverpackung und knipse noch ein paar Abschieds-Fotos der Lady in natürlicher Umgebung, sprich auf Sand. Dann zerre ich das Stoffbehältnis entschlossen, mit der Öffnung nach unten, zu unseren zusammengeklappten Stühlen – in der Hoffnung, es möge sich alles weitere Getier, das innerhalb der letzten zwei Tage Quartier im Packsack bezogen hat, unterwegs verflüchtigen. Zur Sicherheit aber schütteln wir nochmal kräftig, bevor wir unsere Sitzgelegenheiten und den Tisch in den dunklen Tiefen des Sacks versenken. Glücklicherweise purzelt keine weitere tierische Überraschung mehr heraus, doch Annette und Jochen schwören trotzdem hoch und heilig, den Sack in Zukunft nicht mehr so leichtsinnig herum liegen zu lassen: dieses Mal war es nur eine harmlose Spinne, nächstes Mal aber könnte es eine Schlange sein, die den Wärmeeffekt des schwarzen Gewebes nutzen wollte, wer weiß. Man muss ja nichts provozieren…

Aspazoma amplectens
Mesembryanth. guerichinanum
Mesembryanth. guerichinanum











So, nun ist auch das letzte Teil verstaut und wir können durchstarten. Sportlichen Reifens passieren wir gleich darauf die mittlerweile so vertraute Hummer-Passage, entern erneut die Sisyndite-Ebene, die in Wahrheit übrigens Koeroegab Plains heißt, und halten uns dann rechts, Richtung Akkedis-Pass. Bei unserer Anreise nach De Hoop sind wir aufgrund der bereits recht fortgeschrittenen Tageszeit hier ja relativ zügig durchgebrettert, nun aber haben wir Zeit, diesen Streckenabschnitt genauer unter die Lupe zu nehmen. Ein Unterfangen, das sich als sehr lohnend erweist. Unsere Aufmerksamkeit wird sofort durch ein geradezu plantagenartiges Feld von Mesembryanthemum-Pflanzen gefesselt, die, abgesehen vor ihrer beeindruckenden Größe, auf den ersten Blick recht unspektakulär wirken. Bei näherem Hinsehen jedoch entpuppen sich die Riesen-Aizoaceen als ausgesprochene Schönheiten: ihre Blüte ist zwar fast abgeschlossen, dafür aber tragen sie rote, glänzende, himbeerartige Früchte, die uns verlockend appetitlich anleuchten. Auch die rosafarbenen, verblühenden Blüten und die bereits gebildeten Samenkapseln sind eine wahre Augenweide, das Schönste jedoch sind die Blätter. Sie sind von samtenem Grün, haben einen üppig welligen Rand, der von kirschroten Blasenzell-Idioblasten gesäumt wird. Mann, wie das klingt! Blasenzell-Idioblasten! Dieses Wort wird weder den prallen, semitransparenten Kügelchen, noch der malerischen Pflanze, ihren Farbkontrasten und den unterschiedlichen Oberflächenstrukturen in onomatopoetischer Weise gerecht, aber es ist nun mal der botanische Fachbegriff für die wasserspeichernden Bläschen, die der Mittagsblume helfen, in derart regenarmen Gebieten überhaupt überleben zu können.

Dyerophytum africanum
Mesembryanth. guerichinanum
Mesembryanth. guerichinanum










Vor lauter Faszination über diese optisch so reizvollen Mesembs hätten wir beinahe die anderen Pflanzen übersehen, die an diesem Standort ebenfalls in voller Blüte, Hülle und auch Fülle wachsen. Wie zum Beispiel sehr viel kleinere Mittagsblumen mit fingerartigen Blättern und fragilen weißen Blütensternen, bei deren Anblick man sich unwillkürlich fragt, wie solche Gebilde auch nur eine Sekunde den hier herrschenden Temperaturen standhalten können. Diese Frage stellt sich bei einer heckenähnlichen Reihe von robust wirkenden Büschen eher weniger, aber auch sie erfreuen uns mit roten lilienartigen und blauen kelchförmigen Blüten. Wir stecken mit unseren Nasen gerade abwechselnd in Büschen und Bestimmungsbüchern, als plötzlich ein Motoren-Geräusch in unsere Ohren dringt. Bald darauf nähert sich tatsächlich ein Wagen, dessen vier Insassen uns freundlich grüßen und neugierig-fragend in Richtung unseres Blühgestrüpps blicken. Als sie nichts Spektakuläres entdecken, halten sie kurz an und fragen nach. „Anything interesting?“ Na klar! „A lot of beautiful plants. For example different mesembs, Nymania, Ehretia and Dyerophytum…“, antworten wir, doch kaum haben wir das Wort „plants“ ausgesprochen, sind die Vier auch schon wieder deutlich abwinkend und noch deutlicher kopfschüttelnd von dannen gebraust. Hallo, was waren das jetzt für komische Typen? Wie kann man denn ausgerechnet in das entlegene Richtersveld fahren, wenn man sich so gar nicht für Pflanzen interessiert, fragen wir uns, ebenfalls kopfschüttelnd. Wenigstens am Rande sollte man doch einen Blick darauf werfen, selbst als eingefleischter Ornithologe, verbissener Herpetologe oder fanatischer Entomologe. Mhm, das ist ja fast so, als würde ein Australier Ende September den weiten Weg nach München antreten, nur um dort die baulichen Schönheiten der Stadt zu besichtigen und dabei das Oktoberfest links liegen lassen. Unvorstellbar! Aber gut, ist ja nicht unser Problem. Letzteres liegt eher darin begründet, dass der Tag bekanntermaßen nur 24 Stunden hat und es verdammt viel zu sehen gibt – das meiste aber nur, solange es hell ist. Jetzt ist es zwar gerade mal zwölf Uhr mittags, doch es liegt ja noch der Akkedis-Pass vor uns, dessen sukkulentengespickter Sattel, die diversen vielversprechenden Hügel links und rechts des Wegs hinab in die Oranje-Ebene, das flache Schwemmfeld vor Potjiespram und natürlich das Camp selbst. Freizeitstress pur! Und den gilt es nun schleunigst zu entzerren. So also verabschieden wir uns von den Mesemb-Plains, fahren rasch weiter und schrauben uns kurz darauf den, diesmal aus südwestlicher Richtung kommend, relativ flachen Anstieg zu Akkedis-Pass nach oben.

Crassula deceptor
Tylecodon wallichii
Crassula brevifolia










Auf dem höchsten Punkt angekommen – der Motor ist noch nicht abgestellt – klettern Heinz und ich schon voller Ungeduld und Tatendrang aus dem Auto und stürmen los. Wir hatten ja schon am Tag unserer Anreise einige Zeit hier verbracht, aber diese Gegend ist wie ein guter Film: man kann, ohne die geringste Langeweile zu empfinden, seine Sinne ein weiteres Mal auf Reise schicken und immer wieder Neues entdecken. Und das genießen wir ausgiebig: die nächsten eineinhalb Stunden kraxeln wir in den Felsen umher, Heinz bis auf den Gipfel des nächsten Hügels, ich weiter unten, und vergnügen uns mit unseren Freunden Tylecodon, Cotyledon und Co. Eigentlich ist es nicht gerade die richtige Tageszeit, um sich zwischen aufgeheizten Steinen und bei prallem Sonnenschein sportlich zu betätigen, aber die Gegend ist so phantastisch, dass wir diese Tatsache erfolgreich verdrängen. Außerdem riskieren wir für unsere erneute Begegnung mit unzähligen Sukkulenten gerne eine leichte Überhitzung. Ganz besonders freue ich mich dabei auf das Wiedersehen mit meinen Lieblingen, den Namaquanum-Pachypodien. 

Pachypodium namaquanum
Pachypodium namaquanum
Euphorbia decussata










Umgangssprachlich werden die imposanten Stachelsäulen mit den kecken Blattschöpfen übrigens Elefantenrüssel, Nordpole oder, der bekannteste Name, Halfmens genannt. All diese Bezeichnungen liegen im Aussehen oder bestimmten Eigenschaften der Hundsgiftgewächse begründet und hinter (fast) jeder steckt eine interessante Geschichte. Nun ja, beim „Elefantenrüssel“ ist es lediglich eine optische Assoziation – mit etwas Phantasie kann man tatsächlich eine gewisse Ähnlichkeit mit dem haarigen, grauen Rüssel eines Dickhäuters erkennen. Der Name „Nordpol“ hingegen bezieht sich auf einen raffinierten Überlebensmechanismus der Pachypodien. Da im Richtersveld und im äußersten Südwesten Namibias – und nur hier gibt es diese Sukkulenten – selten Regen in nennenswerten Mengen fällt, fangen die Nordpole mit ihren Blattschöpfchen Feuchtigkeit aus dem von der Küste ins Land ziehenden Nebel, die kondensierten Wassertropfen rinnen am Stamm herab und versorgen die Wurzeln mit überlebenswichtigem Nass. Doch Blätter bedeuten gleichzeitig Verdunstungsfläche, die, dem Klima entsprechend, minimal gehalten werden muss. Dennoch muss das Blattwerk, das die Pachypodien nur während des etwa drei Monate dauernden Winters, der Zeit mit den meisten Regenfällen, tragen, eine ausreichende Photosynthese gewährleisten. Auf diesem schmalen Grat der Überlebensnotwendigkeiten haben die Sukkulenten die für sich optimale Lösung gefunden: ihre wenigen Blätter sind gekräuselt – möglichst viel Oberfläche bei möglichst wenig Energieaufwand, den das Hervorbringen von Blättern ja erfordert – sie sind behaart, was Schutz vor unnötiger Verdunstung bedeutet und sie werden exakt nach Norden ausgerichtet, um ein Maximum an Sonnenlicht verstoffwechseln zu können. Und genau diese Ausrichtung gen Norden brachte den Pflanzen den Namen Nordpol ein.

Crassula grisea
Crassula grisea (Jungpflanze)
Tylecodon wallichii (Blüte)










Diese auffällige Orientierung in nördliche Himmelsrichtung greift auch eine Legende der Nama auf: vor langer Zeit, so besagt die Überlieferung, wurden das Hirtenvolk von einem feindlichen Stamm attackiert und nach einem kräftezehrenden, blutigen Krieg aus seinem Land vertrieben. Auf der Flucht vor den übermächtigen Aggressoren wandten sich die Verlierer nach Süden, überquerten den Oranje und fanden sich im Richtersveld wieder. Diese bergige, schroffe, lebensfeindliche Gegend, von der die Nama glaubten, ihre Götter hätten sie in einem Augenblick des Zorn erschaffen, erschien ihnen so abweisend, so fremd, so unwirtlich, dass sie sich zum Weiterziehen entschlossen. Einige Stammesmitglieder aber wurden von unsäglicher Trauer und Sehnsucht nach ihrer alten Heimat übermannt, blieben für einen Moment stehen und warfen einen letzten Blick nordwärts, zurück nach Hause. Da bekamen die Götter Mitleid mit den unglücklichen Fliehenden und verwandelten sie in Halfmens, Pflanzen mit menschlicher Gestalt, um ihnen für alle Ewigkeit einen Blick auf ihre verlorene Heimat im Norden zu ermöglichen.

Euphorbia dregeana
Crassula muscosa
Codon royenii










Eine wunderschöne, sehr anrührende Geschichte, die mir die bizarren Pachypodien noch sympathischer macht! Aber die Pachys sind nicht die einzigen, die es mir angetan haben, es gibt noch so viel anderes zu sehen. Und im Gegensatz zu den Vorfahren der Nama erscheint uns das gottverdammte Richtersveld wie ein Paradies. Gut, wir haben nicht soeben unsere geliebte Heimat verloren, wir müssen hier auch nicht überleben, nur schauen – aber diese karge Landschaft beherbergt eine solch ungeahnte Vielfalt des Lebens, dass wir schön langsam nicht mehr wissen, wo wir zuerst anfangen sollen. Während Heinz weit über mir in den Felsen herumturnt und immer wieder Quieker des Entzückens hören lässt, krabble ich auf allen Vieren durch die sonnendurchglühten Gesteinsbrocken am Rande des Tals. In jeder Ritze wächst hier etwas, in jedem Spalt gedeiht Leben, auf jedem sandigen Absatz reckt sich ein Pflänzchen dem grellen Licht entgegen. Es ist unbeschreiblich! Nicht nur die Tatsache, dass es so ist, dass hier überhaupt etwas sprießt, dass die Gewächse förmlich zu platzen scheinen in ihrer prallen Üppigkeit, nein, auch die Farben, die Formen, die Energie, der Überlebenswille, von dem ich hier umgeben bin, rühren etwas in mir an, ganz tief in meiner Seele. Immer wieder muss ich Kontakt aufnehmen, vorsichtig über ein kleines, strotzendes Blättchen streicheln, das sich, trotz der höllischen Außentemperatur, erstaunlich kühl anfühlt, immer wieder den Atem anhalten, wenn mich ein Gewächs aufgrund seiner einzigartigen Schönheit und unerklärlichen Symmetrie sprachlos macht. Vergleichbare Augenblicke hatte ich bisher nur in der Zentralkalahari, die mich mit ihrer Weite, Leere und Stille auch oft derart stumm und staunend dastehen ließ – doch das hier hat eine, nochmals andere, Qualität, die Gänsehaut auf meinen Körper zaubert.

Stehen und warten…
Brownanthus nucifer
Sarcocaulon crassicaule










Trotz meines Gefesseltseins werfe ich dennoch zwischendrin ab und zu einen Blick hinab ins Tal, hinunter zu unserem Landy, in dessen schmalem Mittagsschatten sich Annette und Jochen mittlerweile niedergelassen haben und Tee trinken. Tja, da hatte ich wohl zumindest ansatzweise recht mit meiner Vermutung bezüglich der „Wild-Entzugserscheinungen“ der beiden. Unsere Reisefreunde sind zwar botanisch höchst interessiert, unser ausgiebiger Erkundungsdrang in florale Nischen scheint ihnen dann doch etwas zu ausgeprägt zu sein… Nur noch ein bisschen, nur noch hinter den nächsten Felsen schauen, entschuldige ich mich in Gedanken, Heinz ist ja auch noch nicht zu sehen. Nach dem überüberübernächsten Felsen aber sehe ich sicherehitshalber mal auf meine Armbanduhr; und – uih, wir krabbeln hier tatsächlich schon seit eineinhalb Stunden herum! Seufzend beschließe ich, umzukehren, um die Geduld der beiden nicht über Gebühr zu strapazieren; die Geduld, die ja auch noch die bevorstehende Exkursion in die weiter unten liegenden Quarzhügel möglich machen soll. Dankenswerterweise aber sind Annette und Jochen bei meiner Rückkehr völlig entspannt, freuen sich mit mir und Heinz, der zehn Minuten später auf der Bildfläche auftaucht. Nein, nein, es war nicht langweilig, nur zu heiß, meinen die beiden mit stoischer Ruhe, mit ebensolcher Gelassenheit nehmen sie unser Ansinnen „Quarzhügel“ zur Kenntnis und lassen uns, ein paar Kilometer weiter, erneut in die Wunderwelt des Richtersvelds entschwärmen.

Adromischus alstonii
Conophytum bilobum
Tromotriche pedunculata










Heinz saust voraus, ich hinterher, während Annette und Jochen im Schatten des Autos zurückbleiben. Jedoch nicht lange. Heinz hat etwas entdeckt und winkt den beiden aufgeregt. Folgsam sprinten sie den Hügel herauf und lassen sich den Fund erklären. Es sind kleine, gelbe Blüten, die aus sukkulenten Kissen etwa centgroßer, gespaltener Blätter entsprießen. „Ich wollte ja immer Lebende Steine finden, was mir bisher leider nicht gelungen ist, aber das, was wir hier vor uns haben, ist Conophytum bilobum aus der Familie der Ruschioidae – also ganz nahe verwandt mit den Lithopsen. Und wenn ich schon keine Lebenden Steine präsentieren kann, dann müssen wir halt damit zufrieden sein.“, referiert Heinz. Interessiert lauschen Annette und Jochen, fotografieren ein wenig, machen sich dann aber auf den Weg zurück zum Auto. Weit jedoch kommen sie nicht, denn wieder hat Heinz etwas entdeckt: kantige, schmutzig-grüne Würste, polsterförmig angeordnet, denen lange Stiele entwachsen, die von prallen, zartrosa Knospen gekrönt werden. „Eine Asclepia, wahrscheinlich eine Tromotriche, aber welche genau, kann ich nicht sagen, da die Blüten noch geschlossen sind.“ Diese Tatsache lässt auch bei Annette und Jochen kein allzu großes Interesse aufkommen, weshalb sie nach höflicher Würdigung der Sichtung erneut rasch den Hügel hinabstreben. 

Tromotriche pedunculata
Tromotriche pedunculata
Mother-of-Pearl-Flechte










Fast sind sie schon beim Auto angelangt, als Heinz abermals seinen Lockruf hinterher schickt: „Ja, ja, jetzt hab ich eine mit offenen Blüten gefunden! Kommt schnell!“ Zögerlich, fast ein bisschen unwillig, drehen die beiden sich um, können der Versuchung jedoch nicht widerstehen und traben schließlich ein drittes Mal gehorsam zu uns herauf. Ihre Neugier und Mühe aber werden diesmal wirklich fürstlich belohnt. Wie kostbare Seesterne an langen Tentakeln schmücken prachtvolle Blüten die eher unscheinbare Pflanze. Fünf fleischige Blütenblätter, auberginefarben, mit weißem, erhabenem Irrgartenmuster, gesäumt von dichten Haarbüscheln, treffen sich in der Mitte, der Blütenöffnung, die ihrerseits wie ein weinrotes, glänzendes Krönchen den zartgelben Blütenboden zu schützen scheint. Und ja, Heinz hatte recht mit seiner ersten Vermutung – es ist eine Tromotriche, und zwar eine pedunculata ssp. longipes. Kein besonders klangvoller Name für die Aasblume mit den bezaubernden Blüten, aber ein sehr treffender: die langbeinig Bestielte mit den zitternden Härchen. Fasziniert huldigen wir dieser Schönheit, fotografieren, schnuppern, berühren, genießen. Auch Annette und Jochen sind ehrlich begeistert über den Fund meines adleräugigen Sukkulenten-Liebhabers, machen sich aber dennoch bald wieder auf den Weg, hinab zum Auto und dem verlockenden Schatten, den der Landy auf die glühenden Steine wirft.

Hoodia gordonii
Hoodia gordonii
Hoodia gordoni











Heinz und ich hingegen trotzen weiterhin tapfer der Hitze, klettern höher und entdecken noch viele andere kleine Preziosen, die uns endlos erfreuen, jedoch allesamt der Tromotriche, zumindest optisch, nicht ganz das Wasser reichen können. Hoppla – weil ich gerade endlos sagte – so lange sollte unsere Exkursion wohl besser nicht dauern, denn unsere beiden Freunde „zerstreuen“ sich schon wieder über eine Stunde, während wir hier unserer botanischen Leidenschaft frönen. Schweren Herzens, aber einsichtig, machen wir uns also langsam auf den Rückweg zum Wagen, wo wir die beiden bei einem mehr oder weniger seltsamen Anti-Langweil-Programm überraschen. Jochen tippt, ausgestreckt auf einer Matte liegend, wie ein Wilder auf dem GPS-Gerät herum, und Annette legt gerade einen weiteren Stein auf ein Miniatur-Mäuerchen, das sie liebevoll um eine kleine Mittagsblume herum errichtet hat. „Da seid ihr ja! Kuckt mal, ich habe inzwischen einen Ameisen-Pferch gebaut!“ Spricht’s und scheucht eines der herumwuselnden Insekten auf ihre Spielzeug-Koppel. „Oh wei, war’s wirklich sooo schlimm?“, frage ich entschuldigend. „Ach was, kein Problem!“, meinen die Zwei augenzwinkernd. „Nichtsdestotrotz hätten wir nichts gegen eine Weiterfahrt einzuwenden, wenn ihr alles gesehen habt. Ja?!“ Klar! Heinz und ich könnten zwar noch Tage hier verbringen, dennoch sind wir inzwischen so erfüllt von dem bereits Gesehenen, so gesättigt, so reizüberflutet, dass wir beinahe dankbar zustimmen. Also klettern wir in trauter Einigkeit ins Auto, holpern die letzten Höhenmeter Richtung Schwemmebene hinab und freuen uns auf einen gepflegten Rest-Nachmittag im Camp. Und bis auf ein paar weitere Stopps, hervorgerufen durch prächtige Hoodias, die uns ihre in allen Lachstönen leuchtenden Blüten, ihre schnabelförmigen Samenstände und zart glänzenden Stacheln entgegenrecken, kommen wir tatsächlich rasch voran. Gegen 16 Uhr schließlich erreichen wir Potjiespram und sind zutiefst überrascht, wie sehr sich dieses Camp von De Hoop unterscheidet. Es ist um einiges besser ausgebaut, schattiger, grüner und, obwohl wir auch hier völlig alleine sind, wirkt es beinahe „bevölkert“. Das liegt weniger an den zahlreichen Vögeln, die durchs üppige Gebüsch flattern, weniger an dem freundlichen Hund, der uns schwanzwedeln begrüßt, sondern vielmehr an den sichtbaren Hinterlassenschaften vorheriger Gäste. Auf jedem der durch dichtes Buschwerk voneinander getrennten Stellplätze begrüßt uns die heruntergeglühte Asche eines ehemals lodernden Lagerfeuers, garniert von allerlei Alltagsmüll, hier hängt eine Plastiktüte am Ast, dort spannt sich eine Wäschleine zwischen zwei Baumstämmen, in der Dusche stehen vergessene Shampooflaschen, am Spülbeckenrand ein halbvolles Spüli. Nein, es ist nicht richtig dreckig, ungepflegt oder gar vermüllt, dieses Camp, es atmet lediglich einen gewissen Hauch von Zivilisation aus, hat den unterschwelligen Charakter eines Outback-Ballermanns. Wir sind heilfroh, dass heute bereits Dienstag ist, denn all diese Indizien deuten auf ein turbulentes, vergangenes Wochenende hin. Vor drei, vier Tagen hat hier wahrscheinlich noch der südafrikanische Ausflugs-Bär gesteppt – landestypische Partystimmung im entlegensten Winkel der Nation. Das ist natürlich nur eine Vermutung, aber durchaus nicht abwegig, denn so kennen wir sie, unsere südafrikanischen Camperfreunde: es ist Wochenende, kein Weg zu weit, um in unverdorbener Natur, umgeben von jeglichem Equipment-Wahnsinn, die Sau rauszulassen. Thank God, it’s Tuesday! Dankbar ob dieser Tatsache, suchen wir uns den geräumigsten Stellplatz aus, räumen Bierdosen und Fleischverpackungen zu unserem Müll, richten uns häuslich ein, duschen uns die Sandpanade vom Leib und genießen einen geruhsamen Abend am touristischen Brennpunkt des Richtersveld Nationalparks – in aller Stille. Fast, denn unser Feuer knistert laut, der Oranje gluckert, die Bäume rauschen im Wind, ein Schakal ruft, ein anderer antwortet – und der Camphund schnarcht vernehmlich…



Weitere Sichtungen/Eindrücke eines Wahnsinns-Tages: 

Aloe ramosissima
Akkedis-Pass downstairs
Frieden am Oranje
Eidechse mit Rallye-Streifen
Cordylus sp.
Zosterops pallidus
 Die Landschaft ist so schön!



Blick vom Akkedis-Pass
Tylecodon paniculatus
Pachypodium nam.
Tylecodon paniculatus
Tylecodon wallichii

Tylecodon wallichii











Hoodia gordonii
Crassula grisea

Ceraria namaquensis
Cleome fruticulosa
Sarcostemma viminale
Drosanthemum sp.
Monechma mollissimum

Sesuvium sesuvioides

Aspazoma amplectens
Cheiridopsis robusta
Astridia longifolia


Aloe ramosissima

Ganz oben auf dem Hügel

Commiphora capensis

Atemberaubende Landschaft


Am Oranje mit Blick auf NAM

Cossypha caffra

Pycnonotus nigricans

Eberlanzia sp.

Prenia sladeniana

Kleinia longiflora


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