Mittwoch, 1. Juni 2011

13. April, Richtersveld Nationalpark, Potjiespram > Kakamas, Lake Grappa


Das Aufwachen fällt schwer, wenn man von dicht belaubten Baumkronen vor den heißen Strahlen der Morgensonne geschützt wird. Aber es hilft nichts, wir müssen raus, denn heute liegt ein langer Fahrtag vor uns. Raus aus dem Richtersveld, hinaus aus einer einzigartigen Zauberwelt der Sukkulenten, hinüber nach Osten, Richtung Kgalagadi Transfrontier Park. Mal sehen, wie weit wir kommen. Zunächst aber steht Frühstück auf dem Plan – wir geben uns zumindest redlich Mühe, die erste Mahlzeit des Tages gebührlich zu zelebrieren, scheitern aber kläglich an der Vielfalt des uns umgebenden Lebens. Die flachstehende Sonne wirft ein unbeschreibliches Licht auf das bunte, glänzende, metallisch schillernde Gefieder zahlreicher Vögel. Brillenvögel, Kaprötel, Rotaugenbülbüls, sie alle sind wunderschön, am meisten jedoch haben es uns die scheuen Nektarvögel angetan. Mit Toast, Tee und Kamera bewaffnet, stehen Heinz und ich ewig im Gebüsch und lauern den fliegenden Edelsteinen auf. Zurück am Tisch, wird unser Interesse von seltsamen Käfern geweckt, deren Körper über und über mit Sand paniert sind. Und der überaus anhängliche Camphund, den unsere Aufbruchsstimmung in mittelschwere Kuschelpanik versetzt, fordert zusätzlich seinen Tribut. Begleitet von den anrührenden Freundschaftsattacken des verzweifelten Tiers, brechen wir unser Lager ab, verabschieden uns vom Oranje und hinterlassen schließlich einen sauberen Stellplatz und – schweren Herzens – einen unglücklich winselnden Hund, der unserem abfahrenden Auto mit traurigen Augen hinterhersieht. Ein letzter Stopp, ein letzter Blick gilt noch den Bergen auf der anderen Seite des Oranje, die sich uns in nahezu überirdischem Licht greifbar kontrastreich präsentieren, dann machen wir uns wehmütig auf den Weg.

Ich will nix mehr sehen...
Der verschmuste Camphund
Site in Potjiespram











Sandkäfer (Eurychora)
Am Oranje entlang
Letzter Blick auf den Oranje










Sendelingsdrif, Hellskloof Gate, Alexander Bay. Wir schwitzen, es ist unglaublich heiß, doch zirka drei Kilometer, bevor wir die Küste erreichen, hüllt uns plötzlich dichter Nebel ein und senkt die Außentemperatur erheblich. Diese Nebelbänke, die so undurchdringlich kompakt werden können, dass man die Hand vor Augen nicht mehr sieht, sind ein typisches Phänomen der rauen Atlantikküste Namibias. Auf der einen Seite ist da der eisige Benguela-Strom, dessen nach Süden ziehende Wassermassen in flacheren Gewässerzonen selten mal 14 Grad erreichen, auf der anderen Seite das karge, nackte baum- und graslose Festland, das sich tagsüber auf bis zu 60, 70 Grad aufheizt. Diese Temperaturunterschiede sind Hauptursache des Nebels, der in den kühleren Nachtstunden entsteht. Tagsüber ist die Sonne so stark, so gnadenlos, dass das verdunstende Wasser mehr oder weniger unsichtbar in der Hitze wegschlägt. Ab den frühen Abendstunden aber verringert sich die Kraft der Sonne, sie verschwindet, das Land kühlt ab, ist jedoch immer noch warm genug, um die feucht-kalte Luft über dem Benguela-Strom zum Kondensieren zu bringen. Durch südwestliche Winde begünstigt, bilden sich nun Nebelbänke am Küstensaum, die sich erst wieder auflösen, wenn der Planet heiß genug herableuchtet. Bei bedecktem Himmel können die Schwaden aber auch mal den ganzen Tag bleiben. Heute jedoch haben wir Glück – auf halbem Weg nach Port Nolloth klären die ersten Strahlen unsere Fernsicht und das Küstenkaff präsentiert sich uns wenig später freundlich-sonnig und fast einladend bunt.

Landschaft im Richtersveld
Küstennebel
Bei Alexander Bay











Abschieds-Springbock
Meer bei Port Nolloth
Karg, aber farbig!










Trotzdem umschmeichelt uns weiterhin ein kühler Wind, als wir unser Auto vor einem Supermarkt abstellen, um dort unsere schwindenden Vorräte erneut aufzufüllen. Annette hechtet sofort mit gezückter Einkaufsliste in den gemäßigt großen Shop, Heinz, der mittlerweile eine weitere Vorliebe entdeckt hat – nämlich die für afrikanische Läden – saust hinterher, Jochen hingegen bleibt im Auto und sieht etwas auf der Karte nach. Und ich würde hier, bei vollem Netzempfang, gerne mal wieder meine Eltern kontaktieren, krame deshalb gerade mein Handy hervor, um es betriebsbereit zu machen, als mich eine lallend-blecherne Stimme aus meinem Tun reißt. Ein zahnloser Schwarzer, der vor dem Supermarkt herumlungerte, vermeint in Jochen eine passende Melkkuh gefunden zu haben und labert ihn nun voll. Jochen, gutmütig und höflich, wie er ist, redet seinerseits begütigend, aber dennoch abwehrend auf den bettelnden Mann ein, der aber lässt sich nicht abwimmeln. Mir wird der Geräuschpegel im Zuge dieses Hin und Hers deutlich zu hoch, um ein ungestörtes Gespräch mit meinen Eltern führen zu können, so also verlasse ich den Wagen, lehne mich gemütlich ans Heck und will soeben die Nummer wählen, als in der Parklücke neben uns ein voll bepackter Geländewagen vorfährt. Die Fahrertür öffnet sich, ein recht rustikal aussehender Mann steigt aus, stürmt winkend auf mich zu und schwallt mich voll – auf Afrikaans. „So wie euer Auto aussieht, kommt ihr doch sicher aus dem Richtersveld, oder? Dann wisst ihr auch bestimmt, ob die Fähre immer noch kaputt ist. Ich bin nämlich Geschäftsmann und habe öfter in Namibia zu tun. Und da fahre ich meist über Sendelingsdrif, weil das kürzer ist. Aber das geht ja nun schon seit Wochen nicht mehr, weshalb ich immer außen herum den Umweg…“. Es folgt noch seine halbe Lebensgeschichte, dann hält er inne und sieht mich erwartungsvoll an. Ich habe zwar fast jedes Wort verstanden, mein Sprech-Afrikaans jedoch ist recht rudimentär, sodass ich es vorziehe, auf Englisch zu antworten – natürlich nach einer höflichen Nachfrage, ob er das verstehen könne. Heftiges Nicken. Also schildere ich ihm die Sachlage und teile ihm meine Einschätzung mit. Erneut heftiges Nicken, ein überschwänglicher Dank, er holt Luft – und ich muss mir die ganze Story, inklusive der Lebensgeschichte, abermals anhören; diesmal, der Abwechslung wegen, auf Englisch. „Okay, dann weiß ich jetzt Bescheid, vielen Dank nochmal und gute Reise weiterhin!“, beendet er schließlich den Monolog, winkt, steigt in sein Auto, flitzt von dannen und lässt mich einigermaßen geplättet zurück. Kopfschüttelnd wähle ich nun endlich die Nummer meiner Eltern, um sie an meinen letzten Erlebnissen teilhaben und ihnen aus dem tiefen Afrika ein Lebenszeichen ihrer verrückten Tochter zukommen zu lassen. Es tut richtig gut und ist so schön, mal wieder ihre Stimmen zu hören! Weniger schön allerdings ist die Info, dass es bei uns zuhause gerade schneit. Brrr! Im Moment kann ich mir das zwar kaum vorstellen, doch diese Nachricht, kombiniert mit der frischen Brise in Port Nolloth, lassen mich ein wenig frösteln. Mit deutlicher Gänsehaut beende ich das heimatliche Gespräch; gerade rechtzeitig, um unseren Power-Shoppern behilflich zu sein, die frischen Vorräte im Auto zu verstauen. Der Schwarze, der Jochen nach wie vor labernd an der Backe hängt, würde uns ebenfalls gerne zur Hand gehen. Als er aber feststellt, dass nichts Lohnendes für ihn abfällt (Kekse und Brot will er nicht), streicht er endlich die Segel.

Port Nolloth
Port Nolloth
Wie schön war es doch...!











Und sobald alles gestapelt ist, tun wir Selbiges und verlassen dieses seltsame Küstenkaff, machen uns auf den Weg in östliche Richtung. Erneut ziehen das flache Sandveld, das raue Hardeveld an uns vorbei, ein weiteres Mal schlängeln wir uns den Anenous Pass nach oben, passieren im Hinunterfahren eine Straßenbaustelle, die es vor drei Tagen noch nicht gab, und laufen schließlich abermals in Steinkopf ein. Und würde Annette nicht schon seit Kilometern mit einer übervollen Blase kämpfen, wären wir hier einfach durchgerauscht, nun aber sind wir dringend auf der Suche nach einer Toilette. An der örtlichen Tankstelle werden wir fündig. Während Annette nun flinker Beine die Bedürfnisanstalt stürmt, vertreten wir uns die Füße und sehen uns um. Holla die Waldfee, das ist ja eine richtige, wenn auch kleine Mall hier! Tanke, Fastfood und Getränkemarkt auf einem Fleck. Der Alkoholika-Laden allerdings trägt eine merkwürdige, handgepinselte Aufschrift auf seiner Fassade: Bottel Stoor steht da in großen Lettern geschrieben. Mhm? Hat sich hier nur ein orthografieschwacher Schildermaler verewigt, soll das ein bestimmtes Markenzeichen sein oder ist das schlichtweg Steinkopfer Dialekt? 

Baustelle rechts
Baustelle links
Wir müssen rechts










Bevor wir die tieferen Geheimnisse dieser Aufschrift lüften können – korrekterweise sollte sie Drankwinkel oder Bottle Store lauten – kehrt Annette erleichterter Miene vom Klo zurück. Und da dieser Ort in seiner tristen Gesamtheit so einladend nicht ist und wir weiter nichts zu erledigen haben, klettern wir schnell wieder ins Auto. Jetzt ist Kilometerfressen angesagt. Den staubigsten, heißesten Teil unserer Tagesstrecke haben wir ja schon hinter uns gebracht, aber er war wenigstens landschaftlich ansprechend und abwechslungsreich. Was nun jedoch vor uns liegt, kann man getrost als öde und ermüdend bezeichnen. Einziges Highlight, relativer Art, ist, nach etwa 50 Kilometern, die Stadt Springbok, die mit gut zehntausend Einwohnern zwar nicht zu den Metropolen dieser Welt zählt, aber hier, im dünn besiedelten Nordosten Südafrikas, schon zu den Großstädten gehört. Keine Kunst, wenn da sonst nichts ist… Gut, sie ist Hauptstadt des Namaqualands und der Wildblumen, für uns aber nicht mehr als ein weiteres Kaff, das es schnellstmöglich zu verlassen gilt. Wir folgen der vorbildlichen Beschilderung, verlassen die N7 und biegen, an einer belebten, aber übersichtlichen Kreuzung, auf die N14 Richtung Osten ab.

Bottel Stoor?
Springbok City
Blick auf Springbok











Ein unendliches, fast schnurgerades Teerband liegt nun vor uns. Die Straße ist in einwandfreiem Zustand, der spärliche Verkehr gibt keinerlei Anlass zum Meckern, wir kommen rasch voran, aber es ist eben todlangweilig. Hin und wieder macht der Highway zwar eine leicht Kurve nach rechts oder links, mal sind die Berge, die an uns vorüber flitzen, etwas niedriger, manchmal etwas höher, die Töne der Landschaft wechseln von rotgrau über graugelb nach fahlocker und zurück zu gedeckt-blassem Rostrot. Doch diese sehr subtilen Veränderungen sind nicht wirklich in der Lage, uns von unserem Ödnis-Hocker zu reissen. Heinz macht ein langes Nickerchen, Annette starrt aus dem Fenster, Jochen fährt konzentriert und ich plage mich mit dem Gedanken, mein Geografiebuch aus dem Rucksack zu holen, kann mich jedoch bei bestem Willen nicht dazu aufraffen. Ganz plötzlich jedoch werden wir aus unserer Zwangslähmung gerissen: mit dumpfen, aber vernehmlichen „Plöcks“ treffen, wie aus dem Nichts, unzählige kleine, mittelharte Gegenstände auf unser Auto, zerschellen an den Scheiben und hinterlassen schmierige, gelbgrüne Flecken. Ab und zu bleibt kurz ein bedorntes Bein oder ein transparenter Flügel in einem der unappetitlichen Kleckse hängen, bevor er vom Fahrtwind wieder weggerissen wird. Gerade als wir realisieren, dass wir soeben mit einem Heuschreckenschwarm kollidiert sind, ist das Spektakel auch schon wieder vorüber. Außer schleimigem Schlonz auf Blech und Fenstern bleibt nichts – aber wenigstens sind wir nun wieder wach.

Geradeaus ist langweilig!
Nach der Schrecken-Kollision
Mei, Landschaft halt...











Und das ist gut, denn ein Blick aus unseren verschmierten Scheiben zeigt uns, dass es ohnehin Zeit wird, mal wieder in Aktion zu treten. Die Sonne steht nämlich schon recht tief und wir sollten uns allmählich nach einer Übernachtungsmöglichkeit umsehen. Bald darauf passieren wir ein Schild, das unseren leicht rammdösigen Orientierungssinn auf aktuelle Koordinaten setzt: 30 Kilometer noch bis Kakamas, 55 Kilometer bis zum Augrabies Falls Nationalpark. Aha! Nun stellt sich uns die Frage, ob wir heute noch bis zum Nationalpark fahren sollen; richtig weit ist es ja nicht mehr. Aber nein, das ist blanker Unsinn: Eintritt zahlen, einchecken, ganz in der Nähe dieser beeindruckenden Wasserfälle übernachten, ohne morgen Zeit zu haben, den sehenswerten Park zu erkunden. Das lohnt sich in keinster Weise. So also hoffen wir auf einen Campingplatz direkt in Kakamas, das wir kurz darauf erreichen. Die N14 führt rechterhand an dem kleinen Städtchen vorbei – hier sieht es allerdings nicht nach geeigneten Nachtquartieren aus – aber erfahrungsgemäß gibt es vor den Toren der meisten Nationalparks genügend Herbergen der einen oder anderen Art. Darauf setzen nun auch wir, folgen der Beschilderung Richtung Augrabies Falls und schaukeln eine Weile durch hübsche Wohngebiete, die von flachen Weinbergen umgeben sind. Ferienbungalows, Bed&Breakfast-Pensionen, Hotels, alles gibt es hier, nur keinen Campingplatz! 

Schild der Hoffnung
Der Abend naht bald
Noch abendlicher











Als wir uns schon fast damit abgefunden haben, doch im Nationalpark nächtigen zu müssen, taucht plötzlich ein verheißungsvolles Schild am Straßenrand auf. Lake Grappa, Guest House and Ski School, steht da geschrieben, darunter ein paar Symbole: B+B, ein Häuschen, eine Bootsrampe, ein Motorrad und – juhu – ganz links und offenbar erst vor kurzem dazu gepinselt, ein Zelt! Das ist’s doch, was wir suchen! Erleichtert verlassen wir mit quietschenden Reifen die geteerte R64 und biegen links auf eine Schotterstraße ab, die uns innerhalb kürzester Zeit zum ersehnten Ziel bringt – einem Eingangstor nebst dazugehörigem Rezeptionsgebäude. Und diesmal haben wir auf Anhieb Glück; kein Kochwettbewerb, kein überbuchtes Ressort steht unseren Bleibewünschen im Wege. Zwar würde uns Lady Grappa lieber in einem ihrer Bungalows unterbringen, weil es angeblich irgend ein Problem mit dem Waschhaus des Campingareals gibt, als wir aber auf unseren Zelten beharren, bekommen wir die Erlaubnis, sie aufzubauen, wo immer wir wollen. Auch das Dusch- und Kloproblem wird kurzerhand aus der Welt geschafft, indem man verspricht, ein Chalet für uns zu öffnen, dessen Badezimmer wir dann ausnahmsweise benutzen dürften. Das nenne ich Service! Wir bedanken uns herzlich, verlassen die Rezeption und machen uns auf die Suche nach einem geeigneten Stellplatz, den wir auch schnell finden. Am Ufer eines langgezogenen, künstlichen Sees prangt ein üppiger Rasenstreifen – Stromanschlüsse signalisieren einzelne Campsites – wir fahren, typischerweise, ans hinterste Ende und lassen uns dort nieder. Zwar schießt auf dem See ein (recht nerviges) Motorboot hin und her, hat (noch nervigere) kreischende Jungs auf Wasserskiern im Schlepptau, Flutlicht erhellt das ganze Gelände, sonst aber ist das Ressort ganz annehmbar, das Ambiente recht idyllisch. Zumindest für die eine Nacht. Während wir allerdings rasch noch unser Lager errichten und ein schnelles Abendessen zubereiten, erlischt das Flutlicht, das Motorboot verstummt, ebenso die Jungs, es wird still und wir sind froh, den langen, anstrengenden Fahrtag ohne uns umgebenden Trubel ausklingen lassen zu können. 


Weitere Impressionen des Tages:


















































 

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