Mittwoch, 1. Juni 2011

30./31. März 2011, München > Windhoek

Fünf - eine Zahl ohne große mystische Bedeutung, kein Geburtstag, den man groß feiert; fünf halt - eins, zwei, drei, vier, fünf. Spannend wird es erst, wenn es um die Großen Fünf, die Big Five geht. Da beschleunigt sich der Puls und das Foto-Jagdfieber erwacht! Wie oft durfte ich genau dieses Gefühl schon erleben und habe es jedes Mal genossen, denn es war immer wieder neu, schön und aufregend. Allerdings hat sich mein Blick im Laufe vieler Afrika-Reisen gewandelt, mein Augenmerk richtete sich zunehmend auf die kleinen Dinge am Wegesrand –Reptilien, Amphibien, Insekten, Blumen, Flechten; Lebewesen, die man oft erst entdeckt, wenn man auf allen Vieren herumkrabbelt und sich die Zeit nimmt, alles genau zu inspizieren. Und irgendwann in den vergangenen Jahren wurde der Wunsch in mir immer stärker, genau so eine Tour zu machen, eine Small-Five-Safari, eine botanische Erkundungsreise, einen Krabbelgruppen-Ausflug ins südliche Afrika. Heuer soll es endlich so weit sein – ich freue mich wahnsinnig darauf, vor allen Dingen weil ich weiß, dass sich das ideale Team für solch ein Vorhaben auf den Weg macht: meine bewährten Reisegenossen Annette und Jochen, mein Schneck Heinz und ich. Jeder von uns hat seine speziellen Interessen nebst dem dazugehörigen Wissen und so verspricht die bevorstehende „Nix-über-30-Zentimeter-Schulterhöhe-Tour“ eine ganz besondere zu werden. Unsere Route steht schon seit längerem, wir haben sie maßgeschneidert, auf unsere Vorlieben abgestimmt und können es nun kaum noch erwarten. Doch erst mal müssen wir uns vor Ort begeben, nach Windhoek, den Ausgangspunkt unserer Dreiländer-Rundreise.

Seit Wochen schon verfolge ich aufmerksam die Wettermeldungen über unser geplantes Tourgebiet, das von ungewöhnlich heftigen Jahrhundert-Niederschlägen heimgesucht wird. Was ich da auf den Radarbildern sehe, gefällt mir auf der einen Seite sehr, denn der üppige Regen lässt das Grün sicher sprießen, so manche Pflanze wird darob vielleicht außerplanmäßig blühen und die Flora besonders opulent gedeihen. Andererseits habe ich wenig Lust, drei Wochen durch die aridesten Gegenden des südlichen Afrika zu gurken und mir einen kalten Hintern nebst dauerfeuchter Klamotten und vielleicht sogar noch einen Fußpilz einzufangen, weil mir der Matsch permanent durch die Zehen quillt. Auch Heinz hat so seine Bedenken, die in einem feuchtkalten Jugend-Zelturlaub am österreichischen Wolfgangsee begründet liegen... Doch wir können es ohnehin nicht ändern und freuen uns so oder so tierisch auf den Urlaub, also los geht’s.

Einen letzten Blick noch werfe ich auf Kobus Bothas Wetterseiten, ein letztes Mal noch legen wir uns in ein richtiges Bett schlafen, dann steigen Heinz und ich selig grinsend mit Sack und Pack in die Münchner S-Bahn. Rasch bringt sie uns hinaus aus dem dicht besiedelten Stadtgebiet, hinaus in ländliche Gefilde, wo die Felder noch braun und brach im trüben Sonnenlicht liegen. Hier und da aber spitzen schon erste Knospen aus den sonst noch kahlen Bäumen – eine tolle Zeit, um wegzufliegen, denn wenn wir wiederkommen, wird schon alles grün sein und da, wo wir jetzt hinfliegen, ist es das schon. Besser geht’s nicht!

Gut gelaunt kommen wir am Flughafen an und checken bei einer freundlichen SAA-Dame ein, die sich nach unseren Sitzwünschen erkundigt. Ich bestehe ja ohnehin immer auf einem Gangplatz, aber wenn sie schon so direkt fragt... Deshalb erkundige ich mich augenzwinkernd, ob es denn zu erwartende Vakanzen im Flieger gäbe und ob wir beide in diesem Falle dann je eine Reihe für uns zum Schlafen haben könnten. Frau Check-In meint verständnisvoll grinsend, dass die Maschine tatsächlich nicht ausgebucht sei; sie könne uns ja in einer Viererreihe auf die beiden Gangplätze buchen und wenn wir Glück hätten, würde niemand zwischen uns sitzen. Das aber wollen wir nicht riskieren – 10,5 Stunden Flug mit zwei Fremden zwischen uns, Schneck fern der Schnecke – geht gar nicht! Also pokern wir; Fenster-Gang nebeneinander in der allerletzten Reihe und, sollten sich freie zusammenhängende Plätze abzeichnen, dann begeben wir uns eben auf Okkupationskurs. Zufrieden mit unserer Entscheidung und voller Afrikavorfreude gehen wir noch ein Urlaubs-Anfangs-Bier trinken, dann wird es auch schon Zeit zum Boarden. Und wie erwartet, lichten sich die Reihen umso mehr, je weiter wir nach hinten kommen; in unserer, der letzten Reihe lässt Heinz sich auf seinem Fensterplatz nieder, ich platziere mich vorsorglich gleich mal in der freien Dreierreihe nebenan und warte ab. Die Purserette und ein Kollege blicken im Vorbeigehen vielsagend auf die drei ebenfalls freien Plätze vor mir: „Hey, schau doch mal, ob vorne noch ’ne Familie mit Kindern ist, dann setzen wir die hierher um.“ Oh ne, bitte nicht, schüttle ich entsetzt den Kopf – nix gegen Kinder, sie müssen ja nicht zwangsweise laut und nervig sein, aber ein Säugling, der den Druckausgleich nicht schafft und vor Schmerzen die ganze Nacht durchbrüllt, ist eben auch kein Spaß. Oder vielleicht gar die beiden Alles-total-natürlich-Eltern, die wir vorher in der Warteschlange erspäht hatten: ihr völlig überdrehter Sprößling ließ unter dem milden Lächeln seiner Erzeuger seine überschüssigen Energien laut kreischend an den anderen Passagieren aus. Der darf dann sicher auch seinen Namen ungetadelt auf unseren Nerven tanzen... Also bitte, bitte nicht! Fünf Minuten später werden meine eindringlichen Gebete erhört: der Aufruf des Kapitäns, das Flugzeug startklar zu machen, tönt gerade durch die Lautsprecher, als die Purserette wieder vorbeieilt. „Schnell, nehmen Sie Platz in der freien Reihe, bevor es jemand anderes tut!“, zwinkert sie Heinz zu. Und schwupp, schon sitzt Schneck vor mir und wir beide haben je ein, für Holzklasse-Verhältnisse, echt luxuriöses Bettchen unter unseren Hintern.

Genüsslich breiten wir uns aus, lassen uns ein recht schmackhaftes Abendessen servieren und erwarten dann die Bettschwere. Heinz beamt es schon im Sitzen weg – hallo, Schneck, du hast Platz zum Hinlegen! – ich ziehe mir noch einen Film rein. The King’s Speech, ein mehrfach oscar-gekröntes Machwerk, das, naja sagen wir mal, so voller unfesselnder, pseudosensitiver Nicht-Aktion ist, dass es auch mich bald in Morpheus Arme reißt. Eine recht friedliche Nacht verstreicht, in deren Verlauf ich nur einmal zwangserwache. Der Stewart nämlich erschlägt mich fast mit seinem Aluköfferchen, das er aus dem Gepäckfach über mir zerrt, um eine reichliche Dosis frischen Duftwässerchens nachzulegen. Eine unangenehme Wolke umhüllt mich daraufhin, aber ich döse dennoch wieder ein. Ein paar Stunden später, die sich schlaftechnisch allerdings eher wie Minuten anfühlten, erwache ich erneut und habe einen Schädel auf, als hätte ich die ganze Nacht durchgesoffen. „Good morning, Madam!“, flötet der parfümierte Stewart, zischt an mir vorbei und hinterlässt erneut eine Wolke seines „Duftes“. Jetzt weiß ich auch, warum ich so Kopfweh habe! Der Knabe steht auf Dolce & Gabbanas „The One“, ein Gebräu, das meine Nasenflügel erbeben und meine Hirn-Nervenzellverbände augenblicklich nervös werden lässt. Hier, in der klimaanlagen-gekühlten Trockenluft riecht ja vieles nicht ganz so streng wie unter normalen Bedingungen, aber diese Plörre ist derart penetrant und durchdringend, dass sie selbst Kabinenluft zerschneidet. Bäh!

Mit schwerem Kopf werfe ich einen Blick auf meine Uhr und stelle erleichtert fest, dass wir bald in Johannesburg ankommen. Juhu, Afrika, gleich sind wir da; und auch, wenn wir den Flughafen nicht verlassen werden, so haben wir zumindest afrikanischen Boden unter den Füßen! Als eineinhalb Stunden später die ersten Häuser unter uns auftauchen, fällt wie von Zauberhand die ganze, in mir schlummernde Genervtheit ab, der Stress der letzten Monate verglüht im Sonnenaufgang und das Gefühl der motivationserhaltenden Vorfreude weicht einer wohligen Ruhe – daheim! Zuhause in meiner zweiten Heimat. Entspannt lassen wir die ganzen hektischen Passagiere, die alle am liebsten schon während der Landung zum Ausgang drängen würden, von Bord wuseln, bevor wir ihnen gemächlich folgen. Wir schlängeln uns durch den Transitbereich, bummeln durch die Flughafengeschäfte auf der Suche nach neuer Bestimmungsliteratur, befühlen hier ein T-Shirt, dort ein überteuertes Souvenir, gehen eine Morgen-Cola bzw. einen Frühstücks-Kaffee trinken und klettern schließlich an Bord der Maschine nach Windhoek. Dichtes Gewölk schüttelt uns ordentlich durch, mir die Cola beinahe aus dem Magen, und verhindert jeglichen Blick auf den Boden. Doch im Sinkflug auf Namibias Hauptstadt – die braune Brause befindet sich nun in akuter Gefahr – durchdringen wir die Wolkendecke und können endlich erahnen, wie unglaublich grün es hier wirklich ist. Natürlich sieht es nicht aus, als würden wir gleich im Regenwald landen, aber ein samtener, grünlicher Flaum überzieht das karge Land, grüne Baumketten mäandern durch Sand, Geröll und Felsen, hin und wieder glitzert sogar eine Wasserfläche. Als die Maschine endlich landet - die Cola blieb, wo sie hingehört - können wir es kaum noch erwarten, die Pracht von nahem zu betrachten.











1) Blick auf Heroes Acre; 2) Der Bismarck führt Wasser; 3) Saftiges Grün nahe der Auas-Berge




Rasch bürokraten wir uns durch die Immigration, pflücken unser Gepäck vom Band, schreiten guten Gewissens durch die grüne Zollpforte und werden von den strahlenden Gesichtern Annettes und Jochens willkommen geheißen. Es gibt ein großes Hallo, wir überfallen uns gegenseitig mit Fragen und Berichten – Annette und Jochen sind schon seit drei Tagen in Windhoek – dann schreiten wir zusammen auf den Parkplatz hinaus. Seidige Wärme umfängt uns, ein Zustand, der erst gestern Morgen an die Stelle kalter Dauernässe getreten ist, so bekommen wir aus erster, fast noch regenfeuchter Hand erzählt: es hat tage-, ja wochenlang geschüttet, was das Zeug hielt. Gestern war der erste niederschlagsfreie Tag und seit heute Mittag scheint die Sonne. Wenn Schnecken reisen... Hoffen wir mal, dass das Glück uns hold bleibt.











1)-3) Monteiro - Afrika, wir sind endlich da!





Zusammen machen wir uns auf den Weg zu unserem heutigen Nachtquartier, dem Monteiro Camp, das 11 Kilometer südlich von Windhoek mitten in den Auas-Bergen liegt. Eigentlich wollten wir ja im zentral gelegenen Backpackers Unite nächtigen, doch es machte einen so ungepflegten, verwahrlosten Eindruck, dass Annette und Jochen sich nach etwas Besserem umsahen. Und da fahren wir jetzt hin. Schon auf der Flughafenausfahrt sind die Folgen des starken Regens nicht zu übersehen: der Teerbelag, der hier noch nie der beste war, ist zu großen Schollen zerborsten und aus dem nackten Untergrund haben sich badewannengroße Schlaglöcher ausgespült. Doch uns interessieren eher die positiven Folgen, die ebenso wenig zu übersehen sind. Alles ist grün, das Gras wiegt seine goldenen, weißen und rosafarbenen Ähren im leichten Wind, alle Riviere führen Wasser und glitzern munter gluckernd durch die saftige Landschaft. Ein wunderschönes, nicht ganz alltägliches Bild! Nach 40 Kilometern allerdings schluckt uns erst mal die Stadt, doch auch dort wogt ein Blütenmeer aus Wicken, Bougainvilleen, Strelizien und Clematis. Wir schrauben uns die Jan Jonker Road nach oben und biegen dann Richtung Süden ab. Ein blühendes Stadtviertel weiter, in der Robert Mugabe Ave, passieren wir ein riesiges Gelände, das von einem recht eigenwilligen Zaun umgeben ist: meterhohe Stahl-Elemente in extra-cleanem Look werden alle paar Meter von goldenen, unverkennbar asiatischen Kunststoff-Emblemen geschmückt. Man könnte fast ein überdimensionales China-Restaurant hinter diesem Zaun vermuten, aber es ist, man höre und staune, der neue Amtssitz des Präsidenten von Namibia. Das alte State House in der Innenstadt platzte aus allen Nähten, weswegen Uncle Sam Nujoma im Jahre 2002, damals in seinen letzten Amtsmonaten, ein neues in Auftrag gab – ausgerechnet bei seinen Freunden in Nordkorea. Und die haben dem Regierungspalast ihren charakteristischen, ganz und gar unafrikanischen Stempel aufgedrückt: asiatische Cleanliness gepaart mit billig anmutender China-Restaurant-Optik. Doch billig war die Bude mitnichten, auch wenn sie so aussieht...

Ein paar Kurven weiter geben die Hügelketten den Blick auf eine zweite Ausgeburt nordkoreanischen Architektur-Geschmacks preis, den Heroes Acre. Dieses monströse Kriegsdenkmal befindet sich auf einem etwa sieben Quadratkilometer großen Gelände, auf dem 174 mehr oder weniger namhafte namibische Freiheitskämpfer zur letzten Ruhe gebettet liegen. Ein strahlend weißer Obelisk und eine güldene Soldatenstatue in martialischer Kommunisten-Heldenpose krönen den Gottesacker und sollen, so Old Sams offizielle Begründung für diese massive Geldverschwendung, in den Namibiern jedweder Hautfarbe patriotische Gefühle wachrufen. Mhm, ganz bestimmt! Wie gut, dass diese optische Abscheulichkeit bald wieder aus unserem Sichtfeld verschwindet und wir in die Tiefen der samtig-grünen Auas-Berge abtauchen dürfen. Ein Bahngleis überquerend erreichen wir Monteiro, ein Camp mit nur 2 Bungalows und 6 Campsites, von denen einige überdacht sind; nicht ganz unwichtig in diesen regenreichen Wochen. Wir haben einen der unteren Stellplätze zugewiesen bekommen; mit einem normalen Pkw unerreichbar, klebt er am Ende einer felsigen Steilzufahrt, die Jochen nun vorsichtig rückwärts hinunterkurvt. Als der Landy sicher und gerade steht, springen wir heraus und fühlen uns jetzt endlich voll und ganz angekommen. Nun aber nichts wie raus aus den viel zu warmen Klamotten, ein kühles Bier, Zelt einrichten, Gepäck umpacken, da sein, genießen! Eine freundliche schwarz-weiße Katze reibt sich schnurrend an unseren Waden, Oryxantilopen wandern an den Flanken des gegenüberliegenden Berges entlang, grüne Heuhüpfer und riesige, rot-braune Sattelschrecken klettern in der platzeigenen Blumenrabatte umher, farbenprächtige Blister Beetles verspeisen orangefarbene Blüten, Jochen wirft den Grill an und wir sind da, mittendrin in Afrika! Und heute müssen wir auch nichts mehr tun, nur dasitzen und den Abend genießen. Jochen pariert das Fleisch, Annette umhüllt die Kartoffeln mit Alufolie, wir quatschen uns gemütlich in die Dunkelheit, solange, bis bei Heinz und mir der Sandmann anklopft. Nun ja, die Müdigkeit lässt nicht lange auf sich warten; wir sind ziemlich geplättet von der Fliegerei, dem guten Essen, der Temperaturumstellung und dem Bewußtsein, nun 3 Wochen Afrika vor uns zu haben. Schon gegen 21 Uhr kuscheln wir uns deshalb ins Zelt und schlafen, begleitet von Schakalgeheul und Grillenzirpen, rasch ein.

1)-3) Tierisches Begrüßungskommittee: "Schrecklich"; Mylabris sp.; "Schrecklicher"

1. April 2011, Windhoek > Swakopmund; Sophia Dale

Mhm, gut habe ich geschlafen! Ich blinzle zu Heinz hinüber und strecke mich wohlig, was mir aber nicht wirklich bekommt. Schon gestern im Flugzeug hatte ich bemerkt, dass meine linke Schulter bei unbedachten Bewegungen wehtut, aber jetzt, als ich die Arme nach oben recke, durchzuckt mich ein heftiger Schmerz, der sich wie ein Messerstich anfühlt. Meine Schulterpartie, dauerverspannt von der Computerarbeit, muckt ja gerne mal auf, aber das ist eine neue Art von Schmerz, die mir ganz und gar nicht gefällt. Hoffentlich beruhigt sich das bald wieder, sonst könnten das Gerüttel im Auto und die täglichen Auf- und Abbauarbeiten zur Qual werden. Doch nicht nur ich habe so meine Sorgen, auch Heinz sieht recht knitterig aus – er hat nicht gut geschlafen, einfach nicht die richtige Position gefunden und fühlt sich deshalb nicht besonders ausgeruht, geschweige denn fit. Nach einer Runde tröstenden Kuschelns und gegenseitigen Mitleids rappeln wir uns dennoch tapfer hoch, schließlich ist heute unser erster richtiger Urlaubstag und den wollen wir uns von solchen Unpäßlichkeiten nicht verderben lassen.

Eine sonnengeküßte Bergkette, darauf grasende Oryxantilopen, eine uns begrüßende Camp-Mieze und ein gedeckter Frühstückstisch lassen uns unsere Beschwerden schnell vergessen. Wir genießen das Frühstück mit Ausblick und packen zusammen, was wider Erwarten relativ schmerzfrei klappt, nur auf’s Autodach kann ich nichts hochreichen. Dann verlassen wir Monteiro, verlassen Windhoek und nehmen Kurs auf Swakopmund, eine Strecke, die zu dieser Jahreszeit recht abwechslungsreich ist: solange wir im Khomas-Hochland unterwegs sind, begeistern uns das üppige Grün und die zahlreichen Trockenflüsse, die allesamt Wasser führen. An dem oft malerisch drapierten Schwemmgut kann man deutlich sehen, wie viel Regen in den letzten Wochen herunter gekommen sein muss! Doch je mehr wir an Höhe verlieren, desto gelber wird das Gras – wie goldener Tüll mit weißen, changierenden Reflexen wogt die vergehende Pracht im Wind, ein Anblick, an dem ich mich nicht sattsehen kann. Die Zeit, die Kilometer fliegen an uns vorbei, jede Kurve enthüllt neue optische Schätze und am liebsten würde ich alle paar Minuten zum Fotografieren anhalten.








1) Oberlauf des Swakop River; 2) Nubebberg; 3) Spitzkuppe; 4) Mesembryanthemum sp.


Unsere erste Pause aber machen wir erst weit nach Usakos, als wir einen besonders schönen Blick auf die Spitzkuppe haben. Leider ist es ein wenig diesig und auch die schon recht hoch stehende Sonne ist einem fotografischen Meisterwerk nicht gerade zuträglich. Trotzdem oder, besser gesagt, gerade deswegen hat das Ganze aber einen sehr besonderen Reiz. Der dunstig-blaue Himmel, der pastellblau-rötliche Berg, der 700 Meter aus der Ebene ragt und die weißen Ähren des hüfthohen Grases wirken wie ein Compton-Gemälde. Doch das „Matterhorn Namibias“ ist bei weitem nicht das einzige, was es zu bestaunen gibt: winzige Blümchen bedecken den Boden zwischen dem erstaunlich licht stehenden Gras, sich paarende Schrecken, die perfekt getarnt sind, sorgen für Nachwuchs, kleine sandfarbene Agamen huschen geschäftig umher und im einzigen nennenswerten Baum weit und breit sitzen etwa hundert Sattelschrecken. Sie sind mir ja nicht ganz geheuer mit ihren langen Beinen, den noch längeren Fühlern, der stacheligen Chitinpanzerung und den roten Augen, aber jetzt, da man sie, auf dünnen Zweigen sitzend, auch von unten bewundern kann, enthüllen sie eine wunderschöne Bauchseite in limettengrün, zitronengelb und schwarz. Faszinierende Monster! Sie vorsichtshalber dennoch nicht aus den Augen lassend, nutze ich den Schutz des Busches noch, um Morgentee abzulassen, dann machen wir uns wieder auf den Weg.








1) Geigeria ornativa; 2) Indigastrum argyraeum; 3) Erste Pause








1) Kissenia capensis; 2-3) Euphorbia damarana








1) Camponotus sp; 2) „Schreckliche” Paarung; 3) Agama aculeata; 4) Unterseite einer Sattelschrecke


Kaum merklich verlieren wir weiter an Höhe, die Landschaft verändert sich nun aber sichtlich. Leicht hügeliges, grasiges Gelände geht allmählich in wellig-flache Sand-Geröllwüste über, die Farbe des Bodens wird immer gräulicher, die Vegetation immer spärlicher - wir nähern uns der Uranminen-Hochburg Namibias. Das Tagebau-Gebuddel, bei dem sich Sprengungen bis zu 300 Meter in die Tiefe vorarbeiten, hinterlässt deutliche Spuren in der sensiblen Wüstenlandschaft. Klar, wenn dabei das Oberste zuunterst gekehrt wird... Aber nicht nur das. Seit Kilometern schon sehen wir riesige schwarze Pipelines, die sich über den geschändeten Boden schlängeln. Sie transportieren entsalztes Meerwasser zu den Minen, das dort in großen Mengen zum Waschen des abgebauten Gesteins benötigt wird. Eine gute Sache eigentlich, denn bis vor kurzem noch deckte man den gesamten, sehr massiven Bedarf, indem man die Grundwasserreservoirs der umliegenden Riviere (Khan, Kuiseb und Swakop) anzapfte. Das wiederum brachte auf Dauer die Trinkwasserversorgung diverser Städte in Gefahr und, noch viel schlimmer, die Flora und Fauna völlig aus dem Gleichgewicht. Nun bringt die Entsalzungsanlage dahingehend Entlastung, aber irgendwo muss das gebrauchte Waschwasser ja auch wieder entsorgt werden. Es wird praktischerweise ins Meer zurückgeleitet; schwer mit Salzen angereichert und mit dem Chlorgehalt eines Swimmingpools. Natürlich ohne jegliche Gefahr für die Natur, so sagt wenigstens der Betreiber der Entsalzungsanlage. Logisch, was soll er auch sonst sagen!














1-6) Die Namib im Großraum der Uranminen


Logisch ist auch, dass der Uranabbau Arbeitsplätze schafft – rund 1400 Mitarbeiter sind fest angestellt bzw. profitieren als Subunternehmer oder deren Dienstleister von der Mine. Dass der fortwährende Raubbau an der Umwelt auf längere Sicht aber mindestens ebenso viele Arbeitsplätze an anderer Stelle (Fischerei- und Tourismusindustrie) kosten könnte, davon spricht mal wieder keiner. Auch über die Verluste, die die Minen nun schon seit Jahren aufgrund des gesunkenen Weltmarktpreises für Uran einfahren, wird gerne geschwiegen. Stattdessen sollen weitere Gebiete für den Abbau erschlossen, noch mehr Wüste zerstört werden. Um noch mehr Miese zu machen? Der Mensch ist schon ein selten dummes Vieh!

In Gedanken versunken passieren wir häßliche Abraumhalden, das schwarze Arbeiterghetto Arandis und eine nicht enden wollende Kolonne von Autos, die uns alle entgegenkommen. Da ist wohl Schichtwechsel in den Minen... Kurz nach 14 Uhr wechseln auch wir, allerdings nur die Straße und biegen Richtung Sophia Dale Base Camp ab, wo wir heute nächtigen werden. Auf dem Schild am Eingang heißt uns eine „Familie Lütz“ willkommen, neben der namibischen Flagge weht eine deutsche. Alles klar! Wenig später zeigt uns Manfred Lütz in persona voller Stolz sein Camp. Wir dürfen uns einen Stellplatz aussuchen und richten uns häuslich unter einem der rustikalen Schattendächer ein, während Manfred unser vorbestelltes Fleisch holen geht. Telefonisch hatten wir am Vortag ein Kilo Springbockfilet geordert und das bekommen wir jetzt übereignet – mitsamt dem belustigten Kommentar Manfreds, der, das darf man nicht vergessen, gelernter Metzger ist: „Was? Ein Kilo für vier Leute? Und das reicht euch? Ich war ja neulich mit zwei Freunden am Braaien, da hatten wir acht Kilo zu dritt - und ’n Salat dazu!“ Mit beiden Händen deutet er den Umfang des Salatkopfes an, der in etwa die Größe eines Tennisballs gehabt haben muss und lacht sich schlapp. Typisch „Südwester“, könnte man meinen, aber Manfred ist erst 2009 nach Namibia ausgewandert, hat dort zusammen mit seiner Frau Michaela das Camp übernommen und sich damit einen Lebenstraum verwirklicht. Da gehört es natürlich auch dazu, sich den Grillgepflogenheiten und carnivorischen Mengenvorstellungen vor Ort anzupassen, insbesondere als Fleischer. Wir können hierbei nicht ganz mithalten mit unseren mickerigen 250 Gramm pro Person, dafür aber haben wir deutlich mehr Salat im Kühlschrank...









1) Stellplatz auf Sophia Dale; 2) Heinz und Jochen inspizieren erste Sukkulenten 3) Mesembryanthemum sp.


Apropos Kühlschrank: es ist ziemlich heiß und, bevor wir nach Swakopmund weiterfahren, lassen wir uns jeder ein kühles Bier im Schatten unserer überdachten Sitzgruppe schmecken. Das tut gut, das zischt und hui, das spürt man bei der Hitze auch ganz schön! Durch unseren kurzfristigen, bierbeseelten Nebel fräst sich auf einmal eine recht durchdringende weibliche Stimme, deren Besitzerin sich uns als „Einschieh“ vorstellt. Die blonde, nicht mehr ganz junge Deutsche, aus deren Mund die freundliche Begrüßung (und noch mehr) schallt, scheint eine Namibia-Kennerin zu sein. Uns genau diesen Eindruck zu vermitteln, ist wohl, neben der Befriedigung ihrer unglaublichen Neugier, ihr primäres Anliegen. Im Stakkato fragt sie unser Tourprogramm ab und kommentiert es in einer Art und Weise, die man schon fast als herablassend bezeichnend könnte. Sie hat Ahnung, keine Frage, und kennt sich aus, liefert uns sogar ein paar, nicht ganz unwichtige Neuigkeiten, aber sie behandelt uns dabei wie ahnungslose Vollidioten, denen sie nicht zutraut, auch nur einen Tag in diesem Land zu überleben. Heinz und ich halten uns mehr oder weniger belustigt im Hintergrund, Jochen sagt auch nicht viel, aber Annette kann sich kaum noch beherrschen. Doch auch mich, das muss ich zugeben, macht diese blecherne Quäkstimme und das zur Schau getragene Expertentum ziemlich aggressiv. Bevor Einschieh nun noch mehr gönnerhaft-wissende Weisheiten von sich gibt und Annette ihr an den Kragen geht oder ich mich einmischen muss, brechen wir dann lieber mal auf. Betont freundlich verabschieden wir uns von dem landeskundigen Plaudertäschchen, klettern ins Auto und lassen sie mitsamt ihrem Know-How im Sand der Campsite stehen.








1) Und der Wind weht; 2) Fachwerkfassade des Brückenhofs; 3) Hohenzollernhaus


Ein paar Kilometer vor Swakopmund, man kann die Stadt im Dunst noch gar nicht richtig sehen, dringt bereits merklich kühlere, nach Salz riechende Luft ins Auto, aber als wir unseren Landy dann in der City abstellen, hat es mit Sicherheit 15 Grad weniger als in der Wüste. Puh, da nehme ich mir als alte Frostbeule besser mal meine Fleecejacke mit! Auch ein Hut kann nicht schaden, denn durch die Reflexion des Meeres und der salzhaltigen Luft ist die UV-Strahlung hier extrem hoch – zu hoch für ein, wenn auch sonnengecremtes, Blondchen wie mich. Zu guter Letzt packe ich mir noch meinen Rucksack auf den Rücken, hänge mir die Kamera schussbereit um den Hals, klappe meine Hutkrempe wegen der besseren Sicht vorne nach oben und dann marschieren wir los. Oh, Mann, wie gut, dass ich mich selbst nicht sehen kann und mich hier keiner kennt! Mein klischeehafter Touristenlook ist mir leicht peinlich – und er wäre Wasser auf Einschiehs Checker-Mühlen! Aber die ist ja glücklicherweise nicht da und so können wir völlig entspannt und schamlos bummeln gehen.








1) Blick auf die Jetty; 2-3) Blick von der Jetty auf die Stadt


Im Vierer-Konvoi biegen wir rechts in die nächste Straße ein, bewundern das Hohenzollernhaus, die Fachwerkfassade des Brückenhofs und nehmen zielstrebig Kurs auf das Meer. Nach ein paar Metern merke ich plötzlich, dass Heinz nicht mehr an meiner Seite ist. Ein junger schwarzer Mann hat ihn abgefangen und labert ihn nun voll, radebrecht und kauderwelscht auf deutsch. Oh weia, Schneck ist einem Nüßchenschnitzer in die Hände gefallen! Ich drehe um, steuere auf die beiden zu und kann leider nicht mehr verhindern, dass Heinz dem Nussfuzzi freundlich händeschüttelnd seinen Namen nennt. Too late! Flugs fliegen die Späne und ein paar verkaufsankurbelnde Worte später präsentiert der geschäftstüchtige Makalani-Man sein Produkt, das er nun gerne gegen klingende Münze tauschen möchte. Heinz aber will partout kein Nüßchen, ist allerdings viel zu gutmütig und höflich, um den Aufdringlichen einfach so zurückzuweisen. Er erklärt stattdessen, kein Geld dabei zu haben, was Mr. Makalani natürlich nicht glaubt und daraufhin prompt sein Glück bei mir versucht. Aber, Entschuldigung, sehe ich etwa aus, als hätte ich Geld dabei? Nun kommt die übliche Leier von Frau und Kindern, von „kein Job“ und der leidigen Nuss, die ja jetzt personalisiert wäre und, würde Heinz sie nicht kaufen, völlig wertlos sei. Tja, Pech, kann ich da nur sagen. Mit tröstenden Worten und der Versicherung, es würden ganz viele Deutsche Heinz heißen, lassen wir den Schnitz-Toni einfach stehen und dackeln weiter, direkt auf Swakops berühmte Jetty zu.

Der kalte Südatlantik umzüngelt mit trüben, kabbeligen Wellen die dicken Tragestelzen dieses 300 Meter ins Meer ragenden Stegs. Hin und wieder bricht sich eine besonders große an einer der vorderen Stelzen und schwappt ihre Gischt bis auf die Jetty hoch. Auch Heinz bekommt eine Dusche ab, mitsamt seiner Kamera, aber Gottseidank nehmen weder er noch der Fotoapparat Schaden. Etwas angefeuchtet kämpfen wir uns durch den kalten Wind bis an das Ende des Stegs und genießen von dort aus den Rundblick auf die Stadt. Aus dieser Ferne sieht Swakopmund richtig einladend aus mit seinen bunten, im Sonnenlicht leuchtenden Häusern und dem Grün der Uferpromenade, leben jedoch möchte ich hier nicht. Ich kann zwar gut verstehen, dass es so viele Namibier besonders während der heißen Sommermonate in die von der Meeresbrise gekühlte Stadt zieht, aber das Wetter hat auch andere Seiten hier. Und da muss man schon eine gewisse Meeres-Affinität besitzen, um das schön zu finden – diese aber fehlt mir definitiv. Mich turnt schon der ewige Wind total ab, aber die salzige Luft, die alles klamm macht und den Rostfaktor um das Zehnfache steigert, würde mir den Rest geben, vom Nebel ganz zu schweigen. Da bin halt einfach viel mehr ein Kind der Berge, Wälder und Wüsten. Doch ein Wohnsitzwechsel nach Swakopmund steht ja auch in keinster Form zur Debatte, nicht mal der Liebe wegen, denke ich mir dankbar, als ich mir das Salz in Schlieren auf den Brillengläsern verteile und Heinz auf seine salzigen Lippen küsse; meine Liebe wohnt schließlich, fernab des Meeres, in Oberbayern!


Entspannt bummeln wir zurück auf die Uferpromenade, schlendern im Schatten der mächtigen Palmen Richtung Leuchtturm, amüsieren uns über den als Palme getarnten Sendemast und die vielen deutschsprachigen Schilder. Blendet man die zahlreichen schwarzen Kinder mal aus, die sich fröhlich bibbernd im eiskalten Wasser des Benguela-Stroms tummeln, man könnte sich wirklich in einem deutschen Seebad wähnen. Oder aber in einer der Teutonen-Ferienhochburgen wie Mallorca oder Gran Canaria. Auch auf diesen, von deutschen Touristen innig geliebten Inseln sind ähnliche Bausünden zu finden, wie wir sie auf unserem weiteren Weg entlang der Waterfront zu Gesicht bekommen: häßliche Bungalow-Siedlungsklötze im Einheitslook, Urlaubsghettos, gepanzert mit wenig individuellen, verschiedenfarbigen Fliesen (der besseren Abwaschbarkeit und Wetterbeständigkeit wegen), Wohnsilos, die zum größten Teil so phantasievolle deutsche Namen wie „Die Welle“ oder „Dünenblick“ tragen. Ein Traum für jeden, der sich in solcher Umgebung wohl fühlt. Ich tu’s nicht und Heinz meint nur: „Naja, geschenkt würde ich es nehmen.“








oben: 1) getarnter Funkmast; 2) Light House; unten: 1-2) Bausünden; 2) Maskenweber


Langsam schrauben wir uns in östlicher Richtung wieder ins Stadtzentrum nach oben, vorbei am Open-Air-Andenkenmarkt, am Alten Amtsgericht, lassen uns von einem kleinen gelben Maskenweber begeistern und gönnen uns noch ein Eis, bevor wir die Swakopmunder Buchhandlung stürmen, in der wir uns ausgiebig im deutsch-, afrikaans- und englischsprachigen Sortiment umsehen. Der Laden mit dem umfangreichen Literaturangebot ist ein absolutes Muss für jeden Bücherwurm; hier findet man immer etwas. Heinz zum Beispiel ersteht ein tolles Blumen-Bestimmungsbuch, ich hingegen kann mich nicht recht zwischen „Flechten“ und „Geologie“ entscheiden und greife deshalb schnell noch ersatzweise zu ein paar hübschen Postkarten und den dazugehörigen Briefmarken – es ist schon fast 18 Uhr und der Shop schließt gleich. Als einer der letzten übrigens, alle anderen haben ihre Gitter schon viel früher heruntergelassen. Ja, hier ist das Leben noch beschaulich, verglichen mit der gewünschten und teilweise auch gelebten Dauerverfügbarkeit bei uns zuhause - was ich als sehr wohltuend empfinde. Also doch auswandern? Nein, sicher nicht, denn deutschsprachige Nachbarn habe ich daheim auch, denke ich bei mir, als das dritte Rentnerpärchen hektischen Schrittes an uns vorbeieilt – eindeutig germanisch konversierend, kein bisschen entspannter als in Good Old Germany, nur ein wenig bräuner...


Zurück am Auto, schlichten wir unsere Einkäufe auf die Sitze und wollen nun noch, bevor die Sonne ganz verschwindet, einen Blick auf den Swakop River erhaschen, der zum ersten Mal seit langen Jahren wieder so viel Wasser führt, dass er den Durchbruch ins Meer geschafft hat. Ein Ereignis, dessen Seltenheitswert man in unseren Breiten nur schwer nachvollziehen kann – wir haben ja Wasser im (scheinbaren) Überfluss und bei uns schwappen Flüsse und Seen in der Regel eher mal über als dass sie austrocknen würden. Ganz anders in Namibia: hier gibt es sogenannte Trockenflüsse (Riviere), die jahrelang keinen sichtbaren Tropfen führen, allein am grünen Vegetationssaum am Rande des wadi-artigen Betts erkennt man die fast immer vorhandene, unterirdische Feuchtigkeit. Wenn es dann allerdings regnet, richtig regnet, füllen sich diese Sandläufe in Minutenschnelle mit Wasser und können beträchtlich anschwellen. Im sandigen Untergrund aber versickern die Fluten meist rasch wieder – und so ist der Durchbruch des etwa 460 Kilometer langen Swakop River, der auf seinem Weg vom Khomas-Hochland viel Sand zu überwinden hat, ein echtes „Jahrhundert-Ereignis“.









1)/2) Der Swakop bahnt sich seinen Weg ins Meer; 3) Allgegenwärtiger Rost


Was wir da bewundern dürfen, ist ein richtiges Delta; vor Tagen schon hat der Pegel seinen Gipfel überschritten, aber noch immer rauschen für Wüstenverhältnisse unvorstellbare Wassermengen den von Schwemmgut übersäten, mehrarmigen Kanal herab, gen Meer, und mischen sich dort mit den salzigen Fluten. Um die Besonderheit dieses Ereignisses nochmals zu verdeutlichen: aus ganz Namibia, ja sogar aus Südafrika, sind in den letzten Tagen hunderte von Schaulustigen herbeigeströmt, um DAS live sehen zu können. Auch wir bewundern jetzt die trüben Fluten, die sich tosend und schlammig an den mächtigen Dünen im Hintergrund vorbeiwälzen, um sich anschließend glitzernd ins Meer zu stürzen und kosten es aus, so en passant an diesem Spektakel der Natur teilhaben zu dürfen. Allerdings treibt uns bald der kalte Wind, der auf der Brücke heftig weht und mit sinkender Sonne immer noch kälter wird, ins Auto zurück. Zügig machen wir uns auf den Weg nach Sophia Dale und geben uns dort auf unserer windgeschützen Site der Präparation unseres Abendessens hin. Mhm, eigentlich wollten wir heute ja das Springbockfilet grillen, aber das Fleisch ist immer noch steinhart gefroren und wir wagen es nicht, es in diesem Zustand auf den Grill zu werfen – nicht, dass wir es noch verderben... Stattdessen gibt es Bobotie mit Salat, gekrönt von einem kühlen Bier, gemütlichen Plaudereien am Lagerfeuer und dem fernen Gequäke Einschiehs, die uns heute abend erstaunlicherweise nicht mehr mit ihrem Charme beglückt. Bald aber rafft uns nach diesem ereignisreichen Tag die Müdigkeit hinweg und wir kriechen in unsere Zelte. Blöd nur, dass der Mensch ein Gewohnheitstier ist! Heinz und ich haben eine feste Liegeseiteneinteilung, die unseren Kuschel- und Einschlafgewohnheiten perfekt entgegenkommt. Heute aber nicht, denn meine Schulter, die mich den ganzen Tag nur wenig beeinträchtigt hatte, tut im seitlichen Liegen derartig weh, dass ich mich auf den Rücken drehen muss und so nur schwer einschlafen kann. Auch Heinz wälzt sich unruhig hin und her – irgendwann aber dämmern wir dann doch endlich weg und schlafen einem neuen, aufregenden Tag entgegen.

2. April 2011, Sophia Dale > Welwitschia Drive > Blutkuppe (Teil 1)


Die Morgensonne, gerade ist sie aufgegangen, brennt trotz des Schattendachs so gnadenlos auf unser Zelt, dass ich schweißgebadet erwache. Gemischt mit dem Salzfilm unseres gestrigen Küstenausflugs fühlt sich das Ganze unangenehm klebrig an. Also nichts wie raus aus unserem Stoffhäuschen! Heinz und ich krabbeln aus dem Zelt, genießen die leichte Brise, die unseren Schweiß trocknet und klagen uns gegenseitig unser Leid: Schneck hat wieder kaum geschlafen und wird nun auch noch von einem trockenen Husten geplagt, mich piesackt unverändert meine Schulter. Super, wie zwei 80-Jährige... Unsere Unpäßlichkeiten verdrängend, decken wir den Tisch, frühstücken und bauen anschließend unser Lager ab, was bei der Hitze recht schweißtreibend ist. Umso wohltuender ist die Dusche, die wir uns vor unserer Weiterfahrt noch gönnen.

Als ich mir gerade den letzten Schaum aus den Haaren spüle, mischt sich eine altbekannte, durchdringende Stimme in das Rauschen des Wassers. Oh, nein, das ist Einschieh und sie ist nahe! Deutlich kann ich hören, wie sie mit Geschirr klappert und dabei rege plaudert. Shit, die Spüle befindet sich direkt neben dem Ausgang meiner Dusche und ich muss wohl oder übel an ihr vorbei, wenn ich keine Wurzeln schlagen möchte. Vielleicht ist die Gute ja abgelenkt und sieht mich gar nicht, so hoffe ich wenigstens inständig beim möglichst geräuschlosen Öffnen der Tür. Vorsichtshalber halte ich mir zusätzlich noch mein Handtuch in Kopfhöhe neben das Gesicht, gerade so, als würde ich es ausschütteln oder zusammenlegen wollen und gebe Gas. Vergebens. „Hallihallo, Barbara, guten Morgen!“ „Ach, hallo Angie, guten Morgen, ich hab’ dich gar nicht gesehen.“ „Na, das ist aber gefährlich, in Afrika so blind herumzulaufen, hier muss man immer auf alles gefasst sein!“ Wie wahr... „Konntest du denn gut schlafen, so im Zelt, ist ja bestimmt ungewohnt für dich?“ „Ne, ne, alles prima, hab super geschlafen.“ „Schön! Dann kannst du ja ausgeschlafen ins Abenteuer ziehen. Was habt ihr denn heute vor?“ „Über den Welwitschia Drive zur Blutkuppe.“ „Toll! Das ist das perfekte Einstiegsprogramm, um Afrika kennenzulernen. Du wirst staunen, was es alles zu sehen gibt. Bist du schon aufgeregt?“ „Na klar, wie jedes Mal, wenn ich in Afrika bin, es gibt ja immer was Neues zu entdecken und da freue ich mich natürlich drauf.“ „Ach, du warst schon mal hier?!“ Jetzt wird sie nervös - ich genieße es und hole zum finalen Todesstoß aus: „Naja, ich bin seit 20 Jahren afrikasüchtig und wenn man der Leidenschaft regelmäßig nachgibt, kommt man schon ganz schön rum.“ Einschieh schnappt hörbar nach Luft. „20 Jahre? Warst du denn auch schon mal woanders oder immer in Namibia?“ „Ach, schon in vielen Ländern. Afrika ist so groß und Namibia nur ein winziger Teil davon. Ich möchte halt so viel wie möglich kennenlernen. Jedes Land, jede Gegend ist anders, Flora und Fauna unterscheiden sich überall und ich muss bestimmt noch hundert Jahre leben, um das alles zu sehen. „20 Jahre!“, stammelt Einschieh, „Und ich dachte, du bist zum ersten Mal hier. Dann hab noch viel Spaß und eine gute Reise!“ Spricht’s, dreht sich um und verschwindet.

Ach Gottle, die Arme, jetzt tut sie mir fast leid. Sie ist doch so voller Mitteilungs- und Belehrungsfreude und war ganz glücklich, in mir endlich einen vermeintlich ahnungslosen Afrikafrischling gefunden zu haben, dem sie mit ihrem Wissensschatz den Morgen versüßen und, auf längere Sicht gesehen, wahrscheinlich sogar das Leben hätte retten können. Und nun entpuppe ich mich gemeinerweise als Eingeweihte, die zu allem Überfluss zwei Jahrzehnte des Reisens auf diesem fremden, unergründlichen und ach so gefährlichen Kontinent schadlos an Leib und Seele überlebt hat – und das ganz ohne Einschiehs fürsorgliche Beratung. Das Leben kann schon grausam sein, denke ich mir boshaft grinsend und taste mich vorsichtig zu unserem Stellplatz zurück – stets alle potentiellen Gefahren der unwirtlichen Wildnis Sophia Dales im Blick. Unverletzt und frisch geduscht retten wir uns in den schützenden Kokon unseres Land Rovers und wagen einen weiteren Vorstoß auf unbekanntes Terrain – der Welwitschia Drive wartet auf uns! Ich bin schon sehr gespannt, was diese rund 50 Kilometer lange Strecke inmitten der Namib für uns bereithalten wird.

Die Route ist ja nicht unbedingt ein touristisches Muss, ein in jedem Reiseführer detailliert beschriebenes Highlight, aber die Informationen, die ich darüber gefunden habe, schüren meine Vorfreude. 12 gekennzeichnete Stationen soll es geben, die allesamt kleine oder auch größere Schätze der Wüste markieren. Bevor wir jedoch Station 1 erreichen, entzückt uns bereits ein Schild am Straßenrand; weiß auf grün wird hier eine Teststrecke für Staubfreiheit angekündigt. Was das wohl sein mag? Zwei Kilometer später wissen wir es: die Gravel Road wurde für besagten Abschnitt einfach ordentlich mit Salzwasser begossen - das gute alte Salzpad-Prinzip. Und ein Blick in den Rückspiegel zeigt, dass dieses „bahnbrechende“ Experiment tatsächlich und völlig unerwarteterweise von Erfolg gekrönt ist: es staubt nicht mehr! Was für eine Sensation – und natürlich auch eine unschätzbare Entlastung für die Atemwege aller nicht existenten Anrainer dieser Hustenpiste...









1) Wegweiser Welwitschia Drive, 2-3) Die letzten Mohikaner - Flechten


Kurz darauf, es staubt schon wieder, erreichen wir die erste Station, ein Flechtenfeld. Mit Wasserflaschen bewaffnet steigen wir aus dem Auto und bekommen gerade noch die schulterzuckende Abfahrt zweier anderer Touristen mit. Tja, recht haben sie mit ihrem Schulterzucken, denn viel gibt es hier leider nicht zu sehen. Nicht mehr; so wenigstens informiert uns eine kleine Tafel: aufgrund der vielen Touristenfüße, die hier rücksichtslos umhergestiefelt sind, wurden die Flechtenfelder weitestgehend zerstört beziehungsweise verschwanden steinchenweise in den Taschen nicht minder rücksichtsloser Reisender. Den kläglichen Rest hat man um das Schild herum drapiert – ein paar Kiesel, bewachsen von hellgrau-grünen Flechten. Angeblich sollen diese interessanten Wesen ja ihre Form und Farbe verändern, wenn man sie mit Wasser begießt, regelrecht aufblühen und auch deutlich grüner werden. Nun gut, fast jedes Material verändert sich farblich und physisch, wenn es in Kontakt mit H2O kommt, das ist so erstaunlich nicht. Doch diese Flechten reagieren null, kein bisschen, nicht im Geringsten - was aber auch nicht weiter verwundern sollte, denn es dürften die meistgegossenen Flechten dieser Welt sein, denen man eben, gesättigt wie sie sind, kein müdes Lächeln mehr entlocken kann.

  







1) Zygophyllum simplex, 2) Wüstenlandschaft, 3) Begutachtung der traurigen Überreste


In einer Art Übersprungshandlung lebe ich meine gärtnerischen Instinkte stattdessen an ein paar niedrig krauchenden Zygophyllum-simplex-Pflänzchen aus, die zwar auch nicht mit unmittelbarer Dankbarkeit reagieren, zumindest aber mit ihren prallen, sukkulenten Miniblättchen zeigen, dass sie einen kleinen Schluck durchaus zu schätzen wissen. Jede Lebensform in dieser unwirtlichen Umgebung ist ein Wunder für sich, ein Spezialist, wie es keinem Menschen je gelingen wird, einer zu sein. Doch je spezialisierter ein Wesen ist, desto empfindlicher reagiert es leider auch auf noch so winzige Störungen seiner Survival-Nische. Dieses Wissen erlaubt uns nun eine gewisse Freude über die Existenz der Zygophyllae, doch ansonsten überwiegt die Enttäuschung. Die Flechten, eine einzigartige Lebensgemeinschaft von Pilz und Alge, unscheinbare Lebewesen mit unendlich langsamem Wachstum, wurden zerstört, Jahrhunderte des Zeitlupengedeihens unwiederbringlich zunichte gemacht, Äonen verstauben nun nutzlos und tot in irgendwelchen Nippeskästen und Vitrinen. Das ist wirklich bedauerlich und bestätigt mal wieder meine Meinung über die menschliche Spezies: die Krone der Schöpfung schlägt dem eigenen Fass immer wieder den Boden aus und merkt’s nicht mal...









1) Arthraerua leubnitziae, 2) Zygophyllum stapfii, 3) Wüstenlandschaft


Nun hoffen wir, die wir ja unvermeidlicherweise auch einen Beitrag zum Zerstörungsprozess dieser sensiblen Umwelt leisten, auf ein bisschen mehr Glück an der nächsten Station. Dort soll man zwei endemische Pflanzenarten bewundern können – und tatsächlich, da stehen sie: Talerbüsche (Zygophyllum stapfii) und Bleistiftbüsche (Arthraerua leubnitziae). Auf den ersten Blick keine besonderen Schönheiten, dennoch offenbaren sie bei näherem Hinsehen einige hübsche und interessante Details. Die Talerbüsche zum Beispiel tragen sechskantige, wachsig glänzende Schoten, die Bleistiftbüsche kleine weiße, recht fluffige Samenstände und zeigen hiermit deutlich, dass der ewige Kreislauf des Lebens auch in dieser feindseligen Umgebung funktioniert; man muss nur wissen, wie man das Optimum herausholt. Und darin sind die beiden Pflanzen wahre Experten. Der Bleistiftbusch zapft mit seinen bis zu drei Meter langen Hauptwurzeln das Grundwasser an, mit wesentlich kürzeren, flacheren Wurzeln zieht er seinen Nutzen aus den seltenen Regenfällen nebst der nächtlichen Bodenfeuchte und oberirdisch bedient er sich auch an der Feuchtigkeit des Nebels. Mit einer Multifunktions-Wachsschicht schützt er sich gegen die Verdunstung des mühevoll gesammelten Wassers und imprägniert sich gleichzeitiggegen den Ausfall des Nebels, der auf keinen Fall die Spaltöffnungen der Pflanze blockieren darf – so ist er allzeit bereit, das für die Photosynthese nötige CO2 aufnehmen zu können. Sein Kollege Talerbusch verfolgt ähnliche Strategien, wenngleich er auch den größten Teil seines Wasserbedarfs aus dem Nachtnebel deckt und die absorbierte Feuchtigkeit in seinen sukkulenten Blättern speichert. Es ist wirklich unendlich faszinierend, was sich die Natur alles einfallen lässt, um das Überleben sicherzustellen!









1) Sesuvium sesuvioides, 2-3) Hermbstaedtia argenteiformis, 4) Flechte


Doch hier, an Station 2, gibt es noch weitere Überlebenskünstler zu bewundern: da ist diese unscheinbare Pflanze (die ich bis heute nicht identifizieren konnte), deren holzige Ästchen von länglichen, flaumigen Blättern überzogen sind und deren Triebspitzen von winzigen, strohigen Blümchen in weiß mit rosafarbenem Innenkranz gekrönt werden. Da ist meine erste (selbst erkannte) Mittagsblume in freier Wildbahn; sie trägt den schönen Namen Sesuvium sesuvioides und rollt ihre fleischigen Blätter zum Schutz gegen die Hitze ein, während sie keck ein paar pinke Blüten präsentiert. Und da sind auch Flechten, die man allerdings nur entdeckt, wenn man ganz genau hinsieht. Dafür aber sind sie wunderschön, diese orangenen, korallenförmigen Fächer der Caloplaca isidiosa, die auf daumennagelgroßen Quarzsteinchen wie winzige, abstrakte Kunstwerke prangen. Ich bin so begeistert, das ich am liebsten ewig hierbleiben würde, oder zumindest so lange, bis ich auch die letzte Flechte gesehen haben. 

 







1-3) Caloplaca namibensis
Trotzdem aber fahren wir natürlich nach gründlicher Inspektion der Station 2 weiter – schließlich haben wir noch ein paar Kilometer bis zur Blutkuppe und außerdem noch 10 weitere Stationen vor uns. Bald erreichen wir Markierung 3; sie kennzeichnet eine uralte Ochsenkarrenspur, die sich fast unauslöschlich in den empfindlichen Wüstenboden gefräst hat. Mhm, Ochsenkarren? Das kann nicht sein, denn es sind deutlich mehrere breitreifige Spuren zu erkennen, die kreuz und quer laufen. Die stammen aber wohl eher von dämlichen Off-Roadern, die partout nicht auf der Piste bleiben konnten. Naja, solche Gefährte kann man ja ebenfalls getrost als Ochsenkarren bezeichnen; hier sitzt das Rindvieh halt hinter dem Steuer. Und das zeigt abermals: der Mensch lernt es offenbar nie.

 







1) Blick von der Mondlandschaft ins Hinterland, 2-3) Blick auf die Mondlandschaft

Rasch lassen wir die Zeugenstätte humanoider Uneinsichtigkeit hinter uns und kurven weiter durch diese, aus dem fahrenden Auto heraus betrachtet, recht öde Gegend. Doch plötzlich tut sich eine sagenhafte Kulisse vor uns auf: die Mondlandschaft. Ihr Anblick raubt uns fast den Atem – so schön, so bizarr, so fremdartig ist sie. Wir fühlen uns wie in einer anderen Welt oder, ja, eben wie auf dem Mond. Beige Hügelketten, durchzogen von horizontalen, dunkleren Gesteinsbänder und vertikalen Schwemmfurchen, liegen in diesem Tal zu unseren Füßen. Die Sonne malt harte Kontraste in die unterschiedlichen Strukturen, lässt hier eine sanfte Flanke glitzern, dort einen scharfkantigen Kamm glänzen. Ganz vorne im Tal herrschen sandfarbene Töne in allen Abstufungen vor, doch je weiter das Auge in die Ferne schweift, desto bläulicher wirken die Hügel. Und ganz hinten am Horizont sieht man die andere Seite des Tals. Dort erheben sich weitere Berge, bilden eine diffuse, blaue Silhouette, die mit dem Blau des Himmels fast verschmilzt. Es ist ein großartiger Ort, der noch mehr fasziniert, wenn man dessen Entstehungsgeschichte betrachtet.

  







1-4) Impressionen von der Mondlandschaft


Vor rund 500 Millionen Jahren stieg das Granitgestein, aus dem die Mondlandschaft vorwiegend besteht, aus dem Erdinneren nach oben und führte zur Auffaltung eines mächtigen Gebirgszugs. Granit ist in unseren Klimabreiten extrem verwitterungsresistent, nicht aber in der Wüste, nicht in der Nebelzone der Namib. Hier setzen ihm die krassen Temperaturunterschiede zwischen Tag und Nacht zu, die oberflächliche Durchfeuchtung mit dem salzhaltigen Nebel macht ihn zusätzlich mürbe und so hatte der Zahn der Zeit ein leichtes Spiel, in den vergangenen Jahrmillionen nagte er den Gebirgszug auf Bodenniveau herab. Und dann ist da noch der Swakop River, der selten Wasser führt, aber wenn, dann steuert er sein Scherflein bei; er war es, der letztendlich die Mondlandschaft so zurechtmodelliert hat, wie wir sie gerade sehen. Und der Prozess geht weiter: tief in den Schluchten dieser sogenannten Badlands trägt der Swakop gerade weiteres Gestein ab, fräst sich tiefer. Wir hören es nicht, wir sehen es nicht, aber wir wissen es. Mhm, darf man sich eigentlich Augenzeuge nennen, wenn die Augen nur das Ergebnis, nicht aber die Tat bezeugen können? Egal! Wir fühlen uns als solche und, gepaart mit der Schönheit der Mondlandschaft, erleben wir Augenblicke, die wir wohl nie wieder vergessen werden.

 







1-2) Impressionen von der Mondlandschaft, 3) Gruppenbild: WIR, 4) Cercomela tractrac

Zögernd, fast widerwillig, trennen wir uns von diesem gigantischen Anblick, drehen ihm den Rücken zu und schlendern zurück zum Auto, an dem sich doch tatsächlich jemand zu schaffen macht: ein kleines, weißes Vögelchen nutzt unseren Kühlergrill, an dem zahlreiche Insekten ihr Leben ausgehaucht haben als Buffet. Immer wieder fliegt es den reich gedeckten Tisch an, wählt sorgfältig einen Leckerbissen aus, flattert auf den Boden, um ihn zu verspeisen und kehrt für den nächsten Happen zurück. Der Winzling lässt sich durch unsere Anwesenheit in keinster Weise stören, was uns Gelegenheit gibt, ihn von nahem zu betrachten und auch zu bestimmen: es ist ein Oranjeschmätzer (Cercomela tractrac), dessen fast weißes Federkleid zeigt, dass er ein echtes Kind der Namib ist; seine Kollegen im Rest des südlichen Afrika nämlich sind von gräulicher Färbung. Doch das Wüsten-Weiß passt hervorragend zu seinen schwarzen Knopfäuglein, mit denen er uns hin und wieder interessiert anblickt. Wir lassen ihm Zeit, sich sein flauschiges Bäuchlein vollzuschlagen, genießen seine Unbekümmertheit und Zutraulichkeit, bevor wir ihm dann schließlich doch sein Buffet entführen und weiterfahren, weiter zur nächsten Station.









1) Jochen und Heinz bestimmen, 2) Heinz und ich lauern, 3) Da ist er, der Oranjeschmätzer! 

Hier soll es abermals ein Flechtenfeld zu sehen geben, doch so sehr wir auch Ausschau halten, wir können weder das Zahlentäfelchen noch das Feld entdecken. Dafür aber erreichen wir bald Station 6, den zweiten Aussichtspunkt auf die Mondlandschaft. Sie ist und bleibt grandios, keine Frage, aber vom ersten View Point aus hat sie mir besser gefallen. Ich kann nicht genau sagen, woran es liegt; vielleicht ist es der veränderte Blickwinkel, vielleicht die mittlerweile viel zu hoch stehende Sonne, vielleicht aber ist es auch der fehlende Kick des „ersten Mal“. Oder alles zusammen. Aber es ist ja auch egal, schön ist es trotzdem. Wir genießen den Ausblick ausgiebig, bevor wir wieder ins Auto klettern und weiterfahren. Der nächste Punkt des Welwitschia Drives markiert ein altes Militärlager südafrikanischer Truppen aus dem Jahre 1915, deren metallene Hinterlassenschaften unansehnlich neben der Piste vor sich hinkorrodieren. Dieser historische Rosthaufen ist für uns so uninteressant, dass wir nicht mal anhalten – die tapferen Soldaten des 1. Weltkrieges mögen es uns verzeihen.

 







1-3) Keimlinge in den Ablaufrinnen

Auf den weiteren Kilometern nun verändert sich die Landschaft; die gelblich-graue Ödnis weicht allmählich flacherem Gelände, auf dem immer wieder Grasinseln wogen und sich flache, sandige Schwemmbetten, die man an ihrem relativ grünen Bewuchs erkennt, quer über Piste ziehen. Das Wasser, das hier vor kurzem abgelaufen sein muss, hat nicht nur glänzende Glimmerschiefer-Partikel mit sich getragen, sondern auch die im Boden schlummernden Samen zum Leben erweckt. Unzählige Sämlinge durchbrechen mit ihren Keimblättern energisch den glitzernden Sand und recken sich der Sonne entgegen. An den „Ufern“ dieser Ablaufbetten hingegen stehen erwachsene Pflanzen, die den verflossenen Wassersegen mit grünen Blättern und bunten Blüten quittieren. Da ist zum Beispiel ein Strauch, den ich zunächst für eine Cleome halte. Ihr englischer Name „Mouse Whiskers“, Mäuseschnurrhärchen, beschreibt ziemlich genau die Gestalt einer Cleomeblüte: mit ihren langen, hochgebogenen Staubfäden, den wie Ohren oben sitzenden Blütenblättern und dem kecken Stempel in der Mitte erinnert sie tatsächlich an ein Mäuseschnäuzchen. Doch halt, eine Cleome verholzt nicht, sie trägt keine klebrig-warzigen Schoten wie dieses Gewächs und ihr Stempel ist zudem viel kürzer. Was aber ist das hier? Sorgfältig fotografiere ich alle Details der Pflanze und hoffe, irgendwann herauszufinden, welche Schönheit ich da gerade vor mir habe. Unsere üppige Bordbücherei, bestehend aus allerlei Bestimmungsliteratur, bringt mich im Moment leider nicht weiter und ich verschiebe die Identifizierung notgedrungen auf später.

Manchmal muss ich über mich selbst lachen, manchmal auch fluchen, denn ich möchte immer ganz genau wissen, was ich da gesehen habe. Natürlich genieße ich alles, was die Natur für mich bereithält, aber wenn das Kind einen Namen hat, ist das wie ein Sahnehäubchen, wie ein Zuckerl für mich. Und wenn ich etwas partout nicht herausfinden kann, dann fuchst mich das. Noch heute „plagt“ mich der fehlende Name eines Strauchs, den wir 2008 in Sambia gesehen hatten, als wir vom Tanganjika-See nach Mbala fuhren. Eine Strychnos-Art, ja, aber welche genau? An alle möglichen botanischen Gärten, Exotenforen und Experten vor Ort habe ich meine Anfrage nebst Bildern gesandt. Und? Niemand konnte mir weiterhelfen. Manchmal ist es echt anstrengend, so recherchophil veranlagt zu sein, aber diese detektivische Kleinarbeit macht auch riesigen Spaß. Und es bereitet mir große Freude, immer wieder etwas Neues dazuzulernen. Die cleomeähnlichen Blüten, so habe ich im Nachhinein übrigens doch noch herausgefunden, gehören zu einem Namib Neat’s Foot-Strauch (Adenolobus pechuelii) aus der Familie der Fabaceae, Unterfamilie Caesalpiniaceae, wohingegen die Cleome...

Nein, stopp, das führt jetzt wirklich zu weit. 

Bilder oben: 1) Adenolobus pechuelii, 2) Gomphocarpus filiformis