Dienstag, 16. November 2010

Kurzchillen im Chiemgau 1

07. Oktober 2010

Fast schon hat es Tradition, unser Mädls-Chill-Wochenende; fast, denn heuer fahren wir zum zweiten Mal. Wir, das sind Chrissie, Moni und ich. Nachdem wir letztes Jahr ein paar extrem fröhliche Tage in Südtirol zugebracht hatten, wollten wir auch heuer nicht auf unseren Entspannungs-Ausflug verzichten. Nur wohin? Nicht zu weit weg und nicht zu teuer sollte es sein und den Touristenströmen wollen wir auch aus dem Weg gehen. Moment! Moni und ich hatten vor 5 Jahren ein verlängertes Wochenende im Chiemgau verbracht, weitab vom See, inmitten herrlicher Landschaft, in einer sehr familiären Pension in einem malerischen Dörflein namens Offmering. Somit war die Entscheidung gefallen, die perfekte Location für unsere diesjährigen Chilltage gefunden! Ich kümmerte mich um die Reservierung unseres Pensionszimmers, was nicht ganz so einfach war, denn die schon recht betagte Vermieterin machte am Telefon einen etwas wirren Eindruck: ob ich am nächsten Tag nochmal anrufen könne; sie sei schon im ersten Stock und das Buch läge unten... Am nächsten Tag erwischte ich sie auf Höhe des besagten Buches, sie schrieb sich alle relevanten Daten auf und schloss unser Telefongespräch mit den Worten: „Oiso guad, so machma des. Da wer i na scho do sei. Ah, wenn ned, dann is eppa anda do. Pfia God!“ Soso! Zur Sicherheit rief ich eine Woche vor unserer Abfahrt abermals an, bestätigte die Buchung und bekam wieder zu hören: „Da wer i na scho do sei! Und wenn ned – schbädastns am Omnd kummi wieda. Oiso, pfia God!“ Nun gut, wir werden sehen...

An einem nebeligen Donnerstag Nachmittag geht es endlich los: gegen 15 Uhr verlassen wir München, tuckern gemächlich über die Salzburger Autobahn, fahren bei Rosenheim ab und schaukeln den Rest der Strecke durch zahlreiche, kleine Dörfchen, bis wir schließlich gegen 17 Uhr in Offmering ankommen. Wir parken das Auto im Hinterhof und schon bei der ersten Außen-Inspektion des Hauses wird klar: unsere Pensionswirtin, die Pointner Gisi, ist tatsächlich nicht da. Etwas unentschlossen stehen wir herum, als ein weiteres Auto in den Hof kommt. Ein junger Mann in Arbeitskluft entspringt dem Gefährt, winkt uns kurz zu, läuft zur Hintertür, sperrt diese auf und entschwindet im Haus. Während wir noch rätseln, wer das gewesen sein könnte, sehen wir die Gisi vom gegenüberliegenden Friedhof herabkommen, schwer beladen mit einigen leeren Blumenschalen. In Ermangelung freier Hände wackelt sie freudig grüßend mit dem Kopf. „Ja, do seids ja scho! Jetz war i grad am Friedhof drom und hob ma denkt, do muaß i doch amoi schaun, obs scho do seids. Kummts nur glei mid rei, dann zoag i eich eia Zimma.“ Sprichts, deponiert die Schalen auf der Hausbank und eilt, mit uns im Gefolge, hinein ins Haus, die steile Wendeltreppe nach oben und reißt die Tür von Zimmer 1 auf. Vorsichtig merke ich an, dass wir eigentlich gerne Zimmer 2 gehabt hätten, das mit dem Balkon. „Ja, i woaß scho, aba da wohnt no ebba drin. Aba des wern ma glei ham!“, sagt die Gisi, saust aus dem Zimmer, hinaus auf den Flur und beginnt, an einer Tür zu hämmern, hinter der sich offen hörbar eine in Betrieb befindliche Dusche verbirgt. „Hajo? Hajo!“, schreit sie, „bist du da drin? Hajo, sag!?“ Durch das Rauschen hindurch hört man ein kurzes, heiseres „Ja!“. „Du, Hajo, fahrst du heid no hoam?“ Keine Antwort. Gisi hämmert heftiger und rüttelt an der Klinke. „Fahrst du heid no hoam, Hajo?“ Erneut ist ein heiseres „Ja“ zu vernehmen. „Na is scho guad, Hajo, lass da nur Zeid, Hauptsach, du fahrst heid no hoam!“, meint Gisi zufrieden und erklärt uns, dass der gute Hajo ein Montagearbeiter sei, der übers Wochenende heim nach Sachsen führe und wir derweil gerne den Balkon seines Zimmers benutzen könnten. So hätten wir zwei Fliegen mit einer Klappe: einen Balkon mit Blick auf die Straße zum Draußensitzen und ein ruhiges Schlafgemach zum Hinterhof. Uns soll das recht sein, nur ob der Hajo es so klasse findet, dass drei fremde Damen die nächsten Tage durch sein Zimmer stolpern? Nun ja, die Gisi wird schon wissen, was sie tut!

Etwas amüsiert, aber hochzufrieden winden wir uns die schwindelerregende, linksdrehende Wendeltreppe wieder nach unten, um unser Gepäck zu holen und uns gemütlich einzurichten. Doch im Erdgeschoss angekommen, fallen wir erneut Gisis Fürsorge und auch ihrer Neugier anheim: „Ja, was dean jetzad drei so hübsche, junge Grazien wia ihr in Offmering; do is doch nix los und zum Badn is a scho z’koid?!? Wias es ogruafa habts, hab i ma scho denkt, was machan de de ganze Zeid do. Hoffendlich weads dene ned langweilig. Aber ihr weads scho wissn, warum’s do hea kumma seids. So, und jetzt zoag i eich no, wo da Schlüssl is, fois amoi zuagschbarrd warad und wo de Liachtschoita san.“ Eifrig knipst sie an diversen, in dunklen Winkeln verborgenen Schaltern herum und strahlt mit den der Reihe nach aufleuchtenden Glühbirnen um die Wette. „So, dann wissts des jetzt a, weil ihr kummts ja bestimmt amoi schbada hoam, gei! Obwoi i oiwei no ned woaß, was ihr do so doa woids, wo doch nix los ist...!“ Wir versuchen der Gisi zu erklären, dass genau das „Nix-Los“ es wäre, was wir wollten: Ruhe, kein Trubel, kein Aktions-Zwang, Abhängen, Rumhängen, ein bisschen spazierengehen, gut essen und früh schlafen. Verständnisvoll nickt die Gisi mit dem Kopf, obwohl sie als ausgesprochenes Energiebündel wahrscheinlich noch keine einzige Minute ihres fast achtzigjährigen Lebens abgehangen hat.

Apropos gut essen: als Moni und ich vor 5 Jahren in Offmering waren, gab es hier einen Gasthof, der unglaublich gute Speisen weit jenseits der gutbürgerlichen Landküche kredenzte. Jeden Abend waren wir hier zu Gast und mampften uns mit Begeisterung durch die umfangreiche Speisekarte. Allerdings, das bekamen wir Abend für Abend live mit, kriselte es heftig zwischen Wirt und Wirtin. Da das Paar den Jägerwirt gepachtet hatte, steht nun zu befürchten, dass nach der Trennung der beiden (auch die hatten wir live erlebt), wohl auch der Pächter gewechselt hat. Gisi bestätigt unsere Ahnungen: Na, na, der Schorschi is scho lang nimmer do, der hod si mit seiner Tusnelda zagriagt. Jetzt is do oane ausm Nordn. S’Essn soi recht guad sei, sagn d’Leid, aber ganz schee deirig.“ Na, das wollen wir uns doch mal ansehen! Wir lassen das Gepäck im Auto und spazieren hinauf zum Jägerwirt. Die in einem Glaskasten aushängende Speisekarte klingt nicht schlecht, haut uns aber auch nicht vom Hocker. Wir beschließen, das Lokal von innen zu inspizieren und, damit es nicht so auffällt, gleich einen „Welcomer“ zu uns zu nehmen. Die ehemals schummrige, in einem Stilgemisch aus Gründerzeit und Biedermeier eingerichtete Gaststube ist jetzt hell erleuchtet, mit den üblichen Brauereimöbeln bestückt und wirkt ein bisschen wie der Speisesaal eines Erholungsheimes. An den Fenstern hängen Leinenimitatvorhänge mit Jagdmotiven, die wohl stilvoll wirken sollen, aber in ihrer Unentschiedenheit zwischen Rustikalität und designermäßigem Gestaltungselement seltsam deplatziert scheinen. Die Wände, teilweise in frischem Jägersgrün getüncht, wirken kühl – wie auch die Wirtin, die, obwohl sie sehr höflich und beflissen ist, nicht gerade zu einer heimeligen Gesamtatmosphäre beiträgt.

Dennoch beschließen wir, heute Abend hier essen zu gehen, es wenigstens mal zu probieren; auf dem Rückweg zu unserer Pension allerdings können wir es uns nicht verkneifen, einen kleinen Umweg zur zweiten Wirtschaft vor Ort zu machen und deren aushängende Speisekarte zu studieren. Ok, die Entscheidung fällt leicht: die „Gans“ hat Ruhetag, heute Abend ist also Jägerwirt angesagt, aber wenn der nichts taugt, gehen wir die restlichen Abende in die „Gans“, deren Karte sehr verlockend klingt! Wohlig entspannt und voll informiert kommen wir bei der Gisi an, laden unser Gepäck aus und tragen es hoch in unser Zimmer im zweiten Stock. Oh weia, Moni und ich sind kurzatmig wie alte Weiber... Mit unseren nicht allzu schweren Taschen keuchen wir die steile Wendeltreppe nach oben, lassen uns schnaufend auf die Betten fallen, holen mehrmals rasselnd Luft und beginnen dann, uns medikamentös zu versorgen. Moni spürt seit gestern Abend die eiserne Brustkorbfaust einer aufkeimenden Bronchitis, die mich wiederum schon seit einigen Tagen voll im Griff hat. Rotzend und hustend packen wir unsere Reiseapotheke aus, sprühen, schlucken, schneuzen, schmieren und grinsen uns halb leidend, halb amüsiert durch die pfefferminzigen Hustensaftschwaden an, die mittlerweile durch unser Zimmer wabern. Nur Chrissie hält sich noch wacker, wird aber auch allmählich vom „Nix-Los“-Virus befallen – und so sinken wir erst mal allesamt flach auf unsere Liegestätten darnieder. Mann, ist das schön, sich so hängen zu lassen, ohne jegliche Verpflichtung zu sein! Heute treibt uns nur noch eines – essen. Langsam senkt sich die Dunkelheit auf unsere Dachfenster herab; das diffuse Licht macht uns so schläfrig, dass wir allen Ernstes befürchten einzuschlafen. Bevor das passiert, rappeln wir uns hoch, packen uns warm ein und marschieren zum Jägerwirt hinüber. Die kühle nordische Wirtin lächelt uns wiedererkennend an und versorgt uns mit Speisekarten. Mehr als heute Nachmittag steht jetzt auch nicht drauf zu lesen; so also ist bald für jeden von uns eine Speise gefunden und wir bestellen, wie angeboten, so bodenständige Gerichte wie Holzfällersteak und Saftgulasch, die auf der Karte haute-cuisinemäßig verbal aufgewertet wurden durch Formulierungen wie „an Bratkartoffeln“ und „Madairajus“ (leider a bissi falsch geschrieben). Was wir dann letztendlich serviert bekommen ist recht durchschnittliche Rustikalküche, der Jus outet sich auf unseren Geschmacksknospen als stinknormale Bratensauce, aber weil es ja Jus ist, gibt’s nicht mehr als ein Löffelchen davon. Nein, Frau Jägerswirtin, so werden wir Vier keine Freunde! Dennoch essen wir die „deirigen“ Gerichte brav auf, begleichen unsere Zeche und schleppen uns anschließend ziemlich vollgefressen durch die kühle Nachtluft zurück zu unserer Pension. Im Zimmer angekommen werfen wir uns sofort in unsere Nachtklamotten, Moni und Chrissie präparieren sich zwei heiße Wärmflaschen (eine „Angezogene“ mit kuscheligem Fleece-Überzug und eine „Nackerte“ ohne) und wir plüschen uns wohlig in unsere Betten. Wir sind so müde, dass uns nicht mal das Fernsehprogramm, das uns aus einem Mini-Monitor entgegenflackert, wachhalten kann. Naja, Fussball und Frauentausch sind soo fesselnd eben auch nicht... Gegen 22 Uhr knipsen wir Glotze und Nachttischlampen aus und lassen uns in Morpheus Arme sinken; wie die alten Weiber...

Kurzchillen im Chiemgau 2

08. Oktober 2010

Gestern hatten wir der Gisi einen späten Frühstückstermin aus den Rippen geleiert: 9 Uhr. Richtig spät ist das für uns nicht, aber für eine Frühaufsteherin wie die Gisi wahrscheinlich eine schon recht fortgeschrittene Tagesstunde. Doch unsere Befürchtungen, diesen Termin eventuell zu verschlafen, verflüchtigen sich morgens um 6.30 Uhr auf äußerst unsanfte Weise: aus dem Erdgeschoß dringt lautes Gezeter durch das offene Treppenhaus. Zwischen Gisis keifende Tiraden mischt sich immer wieder eine sonore Männerstimme, defensiv, aber deswegen nicht weniger laut. Nach einer halben Stunde kehrt wieder Ruhe ein, aber nun sind wir wach. Eigentlich bin ich über dieses verfrühte Weckereignis nicht wirklich böse, denn ich habe nicht sonderlich gut geschlafen. Mein Kopf fand keine gemütliche Position auf dem monströsen Federkissen, ohne dieses war es wiederum zu flach und außerdem setzte die warme, trockene Zimmerluft meinen Bronchien arg zu; immer wieder erwachte ich von meinen eigenen Hustenanfällen, wechselte von Schwitzen zu Frieren und die Nacht wollte kein Ende nehmen. Doch jetzt ist sie für uns alle vorüber und wir rappeln uns hoch. Nach einer schichtweisen Morgentoilette – es gibt nur eine Dusche, ein Klo für die ganze Etage und ein Waschbecken pro Zimmer – ziehen wir uns an und wendeln die Treppe nach unten, wo in Gisis an die Küche grenzendem Wohnzimmer schon die Frühstückstafel gedeckt ist. Auf der Eckbank schläft kugelrund eingerollt ein schwarzer Kater, der sich nicht stören läßt, als wir um ihn herum Platz nehmen. Kaum dass wir sitzen, umfängt uns Gisi mit ihrer Fürsorge. Alles, was auf dem Tisch steht, wird erklärt und kommentiert: die Kanne Kaffee, ob die wohl für uns reicht, wie auch die drei Semmeln pro Person, der Honig, das selbstgemachte Erdbeer-Rhabarber-Mamalaad und das Johannisbeer-Scheläh, die Eier, deren Öffnung sie gespannt erwartet, schließlich könnten sie zu hart oder zu weich sein, der Kater namens Burschi, der uns stören könnte, das Chiemgauer Tagblatt, das wir sicher lesen wollten, weil da was über den Pfarrer aus Waging drinstünde usw., usw. Nein, Gisi, ja, Gisi, es ist alles super, wunderbar, perfekt!

Halbwegs beruhigt durch unsere ehrlich gemeinten Versicherungen, wendet sich Gisi der nächsten Baustelle in ihrem übergroßen Herzen zu. Wortreich und bedauernd entschuldigt sie sich für den frühmorgendlichen Streit, der uns so rüde geweckt hatte und liefert die Gründe für die Auseinandersetzung gleich mit: ihr zweiter Mann, der Klausi, sei im Juli gestorben und nach dessen Beisetzung hätte sie die Namenstafel am Grab neu machen lassen. Jetzt steht der Name ihres ersten Mannes ganz oben, der des zweiten darunter, obwohl er nur angeheirateterweise zur Familie gehört hatte, dann kommen die Namen der Eltern des ersten Mannes und ganz unten, wo noch ein Platz frei ist, wird mal Gisis eigener Name hinkommen, „wenns ma amoi d’Schaufe naufhaun“. Diese Namensreihenfolge hatte wohl bei einigen, besonders „engagierten“ Dorfbewohnern Unmut erzeugt, der wiederum an Gisis Sohn Rudi herangetragen worden war. Auch Gisis emsiges Friedhofsgepflanze und Schalengeschleppe schmierte man ihm vorwurfsvoll aufs Brot – das müsse doch nicht die alte Frau machen, dafür wäre die Familie da. Rudi war natürlich ob der ungerechtfertigten Vorwürfe ziemlich konsterniert, informierte seine Mutter und gab ihr zu allem Überfluss auch noch eine Teilschuld. Und da war der Gisi der Kragen geplatzt; heute Morgen und völlig zu recht, wie wir meinen. Wen geht das was an? Sollen die Leute doch vor ihrer eigenen Haustüre kehren. „Ach,“, seufzt die Gisi, „es is scho a Gfrett bei uns aufm Land, des is fuachbar mit de Leid, in was sie de ois eimischn. Dawei geht de des garnix o! Wia i de Nama aufs Dafal schreim lass, des is alloa mei Sach. Und wenn i zehnmoi am Dog Schoin rumdrog, aa. Mei Sohn hat gnua Arwad und wenn i ma was eibuid, kann i ned wartn, bis a endlich Zeid dafür hod. Dann mach i’s hoid seiba! Mei, und ihr kennts ned in Ruah frühstückn, weil i eich den ganzn Schmarrn erzeih. Jetzt loss i eich aber in Ruah essn, jetzt wissts ja ois!“ Sprichts und entschwindet. Einigermaßen erschlagen von den ganzen Informationen, dem endlosen Wortschwall und vor allen Dingen von Gisis rührender Offenheit, speisen wir schweigend weiter, genießen das hausgemachte Mamalaad, das Scheläh und die Gegenwart des leise schnurrenden Burschi.

Kaum sind wir fertig und tragen gerade das Geschirr in die Küche, stürmt Gisi wieder herein und kontrolliert unseren Fressaliendurchsatz. Besorgt muss sie feststellen, dass 3 Semmeln übrig geblieben sind und schwupp, schon legt sie uns Brotzeitbeutel auf den Tisch. „Mei, schmierts eich doch de Semmen, deads a Wurschd und an Kaas drauf, dann habts was zum Mitnehma fürn Dog!“ Das ist lieb gemeint, aber so verfressen sind wir nun auch nicht, dass wir gleich Proviant für unser touristisches Sparprogramm benötigen. Seufzend über unsere Weigerung, setzt Gisi unsere morgige Semmelration auf zwei Stück pro Person herunter und entläßt uns mit herzlichen Wünschen in einen spannenden Tag – nicht ohne abermals zu bezweifeln, ob wir uns hier wirklich in irgendeiner Art und Weise vergnügen könnten. Aber wir können! Nach einem weiteren Besuch in unserem Zimmer, wo wir uns für die herbstlichen Temperaturen rüsten, starten wir zu einem Dorfbummel; hinab zum örtlichen Freibad, das einsam und verlassen im Nebeldunst liegt, hinauf über die Hauptstraße, hinüber zum Friedhof. Ich liebe Friedhöfe, vor allen Dingen die kleinen ländlichen, deren Grabstätten sich eng um die Kirche drängen – und ganz besonders die alten Grabsteine, die oftmals mit sepiafarbenen Portraits der Verstorbenen, gedruckt auf ovale Porzellanplaketten, versehen sind. Ganz nebenbei wollen wir natürlich auch die anstoßerregende Namenstafel begutachten, die unsere Gisi so in den Fokus der Dorfkritik gegerückt hat. Gerade sind wir fündig geworden, als uns eine Frau anspricht: „Suachts ihr eppan? Weil die meistn Leid, de doher kumman, de suachan des Grab vom Allermann. Aba des is ned do, de is am andan Teil vom Friedhof.“ Freundlich grüßen wir, sehen die Dame aber etwas ratlos an, denn der Name Allermann sagt uns so gar nichts. Die Mittfünfzigerin mit ausgebleichten Hennalocken steht barfuß in Birkenstocks – bei frostigen acht Grad – hat ein Fußkettchen um, wirkt recht undörflich, eher etwas ausgeflippt, exaltiert, scheint aber bestens informiert zu sein. „Was, ihr kennts den Allermann ned? Der war doch, na, wia sagt ma, na, Ding halt bei der Ding in Minga. Wega dem kumman an Hauffa Leid.“ Plötzlich hält sie in ihren Erklärungen inne, richtet ihren Blick gen Himmel, wo gerade ein Gänseschwarm in V-Formation seine Bahn zieht und dabei laut schnattert. Inbrünstig faltet die seltsame Dame ihre Hände und flötet andächtig: „Mei, da sans wieda, unsare Gäns, is des schee!“ Was nun folgt, würde man in einem Chat/Forum als „Säuseln aus, markiges Fluchen an“ bezeichnen: in völlig anderer Stimmlage bricht aus dem rotgefärbten Weib etwas hervor, was viel besser zu ihr passt, als das Geflöte: „Kruzifix, jetzt i hab mei Gwahr ned dabei. Do dama scho zwoa ghean!“ Inbrunst off, kommunikativer Infoton an: „Oiso, zum Allermann geht’s do naus, dann grodaus weida, a bissl nüba und nauf und scho seids do. Des kennts garned vafeihn.“ Wir sind heftig beschäftigt, unsere Mundwinkel in Zaum zu halten und nicht lauthals über diesen von Herzen kommenden Fluch zu lachen und entfernen uns deshalb dankbar und dankend in die angegebene Richtung, während uns weiter detaillierteste Wegbeschreibungen hinterher schallen.

Huch, was war denn das jetzt? Kichernd gehen wir das Grab vom Allermann suchen, auch wenn wir nicht wissen, wer das sein soll. Kichernd und lachend, da die Situation ja schon ein bisschen grotesk war: auf der einen Seite beschwert „man“ sich über die Namensreihenfolge auf der Grabtafel, auf der anderen Seite läßt eine seltsame Frau herzhafte Flüche und Wildererphantasien auf geweihter Erde los und keiner schreitet ein; es donnert nicht, es blitzt nicht und auch der Boden tut sich nicht auf...

Dank der präzisen Wegbeschreibung erreichen wir nach kurzem Marsch den anderen Friedhof, offenbar der neuere Teil, und durchstreifen die Grabreihen, jenem ominösen „Ding bei da Ding in Minga“ auf der Spur. Doch wir können Allermanns letzte Ruhestätte nicht finden, dafür fällt uns aber eine seltsame „Grabmode“ ins Auge. Einige der Grabstellen sind nicht bepflanzt, sondern dicht mit weißen Kieselsteinen belegt. Das Ganze sähe extrem lieblos aus, wären diese Steininseln nicht allesamt mit weißen Steinengelchen in diversen liegenden und betenden Positionen geschmückt. Aber auch die petrifizierten Himmelswesen nehmen dieser Art der Grabverzierung nur mühsam, nur ansatzweise ihre, naja, sagen wir mal, nüchterne Ausstrahlung. Der neue Friedhofsteil hat ingesamt viel weniger Charme als der alte und als sich auch der Allermann nicht finden lässt, ist unser Interesse rasch erschöpft und wir spazieren langsam wieder hinunter ins Dorf. Dort entern wir einen von zwei nahe beieinander liegenden Supermärkten der Gruppe „Nah&Gut“ - einer ist näher, der andere ein paar Schritte weiter die Straße hinab; deshalb taufen wir die Läden kurzerhand in „Nah&Fern“ um. Faul wie wir sind, bevorzugen wir natürlich den „Nah“ und erstehen dort Leckereien für einen gemütlichen Sofa- und Kniffelabend, wie wir ihn für heute geplant haben. Prosecco, Aperol, Chips, Schokolade, Pistazien und natürlich ein paar Postkarten – die gehören zu einer derartigen „Fernreise“ einfach dazu.

Schwer beladen kehren wir zur Pension zurück, stellen unsere Einkäufe ab und eilen weiter zum nächsten Laden. Gleich ums Eck nämlich befindet sich ein Nippes- und Schnickschnack-Shop, der nur an zwei Tagen in der Woche für wenige Stunden geöffnet hat. Und heute ist so ein Tag. Eine alte Scheune wurde von zwei Damen liebevoll in ein Paradies voller Dinge, die niemand braucht, verwandelt. Allerdings ist der Tand auch hübsch teuer, so teuer, dass wir nicht mal ansatzweise auf die Idee kommen, hier etwas zu erwerben. Nach einem kurzen Bummel verabschieden wir uns deshalb freundlich und begeben uns mitsamt unseren Knabbereien hinauf in unser Zimmerchen. Es ist schon Mittag, aber immer noch sehr nebelig und recht frisch draußen – so haben wir nicht den leisesten Anflug eines schlechten Gewissens, es uns mitten am Tag auf unseren Betten gemütlich zu machen und eine Lesestunde einzuläuten. Moni und Chrissie allerdings fallen bald die Bücher aus den Händen, sie schlafen ein und aus einem Stündchen werden ein paar mehr. Gegen 18 Uhr, ich bin mit meinem Buch fast durch, erwacht Chrissie schließlich wieder und bald darauf auch Moni. Hunger! So lautet Monis erste Wortmeldung. Da sind wir natürlich sofort dabei! Anziehen, ausgehfein machen und nichts wie ab in die „Gans“! Ich freue mich aufs Essen, aber viel mehr noch auf das Aquarium in der „Gans“, in dem vor 5 Jahren zwei prächtige Hauschen schwammen. Heute Morgen beim Frühstück hatte ich bereits die Gisi interviewt, ob es die beiden urtümlichen Knochenfische wohl noch gäbe. „Ja freilich, des Beckn hams scho oiwei no. Do san die Fiesch gwiss no drin!“ Umso enttäuschter bin ich, als zwar das Riesenaquarium noch da ist, leider aber ohne Hauschen. Ich schnappe mir die Bedienung und frage, wo die Viecher denn abgeblieben seien. Hauschen? Ratlos sieht die Kellnerin mich an. Als ich bekräftigend nicke, plärrt sie in die Küche: „Du, Agnes, ham mir amoi Hauschn ghabt?“ „Freilich, aba scho lang nimma.“ Schon kommt Agnes aus der Küche geschossen. „Mei, de zwoa Fiesch hamma nimma, de ham si einfach nimma woigfuid in dem kloana Beckn drin. Do hob i’s zu meim Freind do, der hod a baar Fieschweiha z’Prien drent, do sans jetzad guad untabracht. Des gfoid eana richtig und de Gloria is scho fast an Metta gwachsn seid dem!“ Es freut mich sehr, dass es den beiden Schönen so gut geht und sie auf niemandes Teller gelandet sind...

Beruhigt danken wir der Agnes und wenden uns dem Studium der Speisekarten zu. Hier in der „Gans“ gibt es eine große Auswahl an Gerichten, sicher dreimal mehr als beim Jägerwirt, sie alle klingen sehr lecker und das, ohne verbal „verfeinert“ worden zu sein. Hier ist nichts AN einer Beilage, sondern ganz normal MIT und die Bratensauce wurde auch nicht niveauheischend zu Jus haute-cuisiniert, sie wird nicht mal erwähnt, dafür aber ist sie in deutlich großzügigerer Menge auf dem Teller zu finden, als bei der Konkurrenz. In rustikaler Umgebung genießen wir ein feines, üppiges Abendessen, das uns in unserer Erholungssucht und gnadenlosen Faulheit tatsächlich an den Rand erneuter Erschöpfung treibt. In wohliger Vorfreude auf unsere Betten begleichen wir die Rechnung, schleppen uns gähnend in die Pension zurück und sinken ermattet auf die fast noch nicht ausgekühlten Betten. Eigentlich wollten wir noch ein paar Runden Kniffel spielen, doch dazu reichen unsere Kräfte heute nicht mehr – nach diesem ereignisreichen, sehr (ent-)spannenden Tag. Um 22 Uhr geht deshalb das Licht aus und wir kuscheln uns ein. Moni und Chrissie mit ihrer „Nackerten“ und „Angezogenen“, ich mit meiner zu einer Nackenrolle geklöppelten Fleecejacke. Mhmm, gute Nacht!